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Alles ist so kompliziert

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Schon vor drei Jahrzehnten hat Raymond Aron das „Ende des ideologischen Zeitalters“ prophezeit. Weder 68er-Bewegung noch „Reideologisierung“ ver- mochten’s zu verhindern.

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Schon vor drei Jahrzehnten hat Raymond Aron das „Ende des ideologischen Zeitalters“ prophezeit. Weder 68er-Bewegung noch „Reideologisierung“ ver- mochten’s zu verhindern.

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Alles ist so kompliziert. Für diesen schlichten Sager hat Fred Si- nowatz, der Vorsitzende der SPÖ, viel Spott geerntet.

Wie er es gesagt hat, mag ulkig geklungen haben, was er gesagt hat, ist ein beachtliches Eingeständnis: Unsere Lebenswirklichkeit mit immer neuen Problemstellungen läßt sich nicht mehr mit immerwährender Deutungserklärung bewältigen. Ideologische Lehrsätze mit mehr oder minder absolutem Geltungsanspruch gehen an der Realität dieser Welt und des Lebens vorbei.

Elementare Herausforderungen und lebensbedrohende Entwicklungen haben die klassischen politischen Ideologien entzaubert, haben ihre Überzeugungskraft ausgehöhlt.

Nicht nur das. „Die Geschichtswirksamkeit von Ideologien ist uns Menschen des 20. Jahrhunderts dramatisch, leidvoll und auch verwirrend bis in unsere Tage hinein bekannt“ , erklärte Hanns Sassmann, Generaldirektor der „Styria“ , zum Auftakt einer Tagung, die Ende Mai weit über 100 katholische und evangelische Publizisten aus dem deutschen Sprachraum, aber auch aus •Ost- und Nordeuropa sowie aus Rom auf Schloß Liechtenstein bei Wien versammelt hatte.

Nichts gegen eine politische Theorie, aber alles gegen ihren Anspruch auf Totalität, die leicht zum Totalitarismus führt, die Fanatismus schürt und auch vor Verbrechen nicht zurückschreckt.

Zugegeben, Denksysteme, die Entwicklungen aus der Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft, oftmals im Sinne einer „Heilslehre“ , hineingepreßt haben, waren in ihrer Einfachheit bequem. Jetzt ist alles so kompliziert.

Der Determinismus, der den in den geistigen und sozialen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts entstandenen Großideologien innewohnt, ist entzaubert, damit aber auch mancher Fortschrittsgedanke.

Die Grundlage solcher Zukunftsideologien war eine berechenbare wissenschaftliche Weltanschauung. Doch die Wandlung der (Natur-)Wis- senschaft von der beobachtenden zur experimentierenden haben die darauf aufbauenden Zu kunftsideologien nicht mitgemacht. Damit haben sie Faszination und Sicherheit verloren.

Durch den

.Abschied vom Wissenschaftsaberglauben“ und „durch den Wegfall der Sicherheit“ , folgerte Albert Keller, Professor für Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie in München, „ist große Panik ausgebrochen“ . Zukunftsangst macht sich breit, Unbehagen.

Für Constantin von Barlöwen, Kulturphilosoph aus München, zeichnet sich eine fatale Gabelung ab: „Die physikalisch-mathematische Ratio der Naturwissenschaften und der Wirtschaft mit ihrer Technologie stimmt nicht mehr mit der kulturellen Vernunft überein, wie sie in der Kunst und den Humanwissenschaften Ausdruck findet. Die Versöhnung beider Ebenen ist der Auftrag der archimedischen Vernunft. Eine Ethik des Denkens und Handelns auf der Grundlage der Konvergenz von Natur- und Humanwissenschaft ist als eine conditio sine qua non zur Uberlebensfrage geworden.“

Und er fordert die Rückbesinnung auf den „anthropologischen Urgrund“ : „In ihm werden die politische Aktion, die künstlerische Schöpfung, der Glaube und das technische Vermögen des Menschen ein Ganzes.“

Eine Herausforderung gerade für Christen, Verantwortung für die Zukunft jenseits der Ideologien, so der Titel der vom Bayerischen Presseclub gemeinsam mit dem „Styria“ -Verlag veranstalteten Tagung, zu übernehmen, denn „der Christ lebt für das Jetzt“ (Albert Keller), muß jetzt das Richtige tun, selbst dann, wenn es für ihn negative Folgen haben sollte. Dazu macht der Glaube frei.

Ein Gedanke, mit dem auch Weihbischof Helmut Krätzl bei der Tagung übereinstimmte: Zwar dürfe der Christ nicht in der Welt aufgehen, er darf sie aber auch nicht fliehen, darf nicht — auch nicht aus den Laboratorien der Wissenschaft — desertieren.

Und er plädierte für einen neuen, „kreatorischen“ Menschen, der aus dem Glauben frei ist und mit seiner Freiheit umzugehen vermag, der verantwortlich etwas wagt, der um die Gefahr und Realität der Schuld und seiner Unzulänglichkeit weiß, der Kreuz und Scheitern kennt und der glauben und hoffen kann. Die Kirche müsse diesen neuen Menschen bilden, müsse ihn vom Gehorsams- zum Verstehensglauben führen.

Freiheit schließt Risiko ein. Das war auch den Politikern — Staatsminister Alfred Dick aus Bayern, Vizekanzler Alois Mock, Kanzleramtsminister Heinrich Neisser und Landeshauptmann Siegfried Ludwig diskutierten mit den Tagungsteilnehmern — bewußt. Pragmatismus jenseits der Ideologien kann kein Handeln „aus verantworteter Überzeugung“ ersetzen, auch wenn alles wirklich so kompliziert ist.

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