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Alles Wird relativiert

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In einer kinderfeindlichen Umwelt kommt die spirituelle Entwicklung des Kindes zu kurz: Eine Situationsanalyse und Auswege bieten die folgenden drei Beiträge.

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In einer kinderfeindlichen Umwelt kommt die spirituelle Entwicklung des Kindes zu kurz: Eine Situationsanalyse und Auswege bieten die folgenden drei Beiträge.

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Wie kommt es, daß bei uns im Westen die Kinder im allgemeinen von einer spirituellen Leere gezeichnet sind? Liegt diese Ähnlichkeit an einer gleichartigen Erziehung in geistiger Hinsicht, obwohl sich Erziehung in den meisten anderen Bereichen unterschiedlich abspielt?

Die Antwort lautet: Die westliche Gesellschaft ist ein kollektiver Emittent von Kultur, dem sich das Kind nicht entziehen kann. Sie spricht über alles — auch über Spirituelles - in einer solchen Art, daß es in der Tendenz künstlich, oberflächlich, austauschbar, relativ und daher äußerlich wird.

Wollen wir nun unsere Kinder vor der spirituellen Leere, die die westliche Kultur normalerweise erzeugt, bewahren, so müssen wir erst begreifen, wie diese entsteht.

Dazu folgendes in Kürze: Die Kinder werden in eine Gesellschaft hineingeboren, in der die traditionellen Gemeinschaften keine Rolle mehr spielen. Sie haben kaum noch Brüder und Schwestern. Das Kind wird vom Schulsystem so früh und so lange wie möglich erfaßt. Dort trifft es auf austauschbare Schwestern und Brüder und paßt sich an die Welt der Organisationen und ihrer austauschbaren Aufgaben, Menschen und Zeiten an.

Von Beginn an wird es einer Flut von Information ausgesetzt, die nicht persönlich für das Kind bestimmt ist. Vielmehr wird es als unpersönlicher und austauschbarer Empfänger behandelt, sowohl von der Schule als auch von den Medien.

Der Logik von Organisation und Information unterworfen, sind die Kinder normalerweise einem Informations-Krimskrams ausgesetzt, der fasziniert. oder Angst macht, immer aber abstrakt und künstlich ist.

So war jedes Kind etwa Zeuge Tausender Sterbe- und Liebesszenen im Fernsehen und in Comicstrips, obwohl es weder von Tod noch von Liebe etwas versteht.

Weiters muß das Kind von Anfang an auf Oberflächlichkeit eingestellt sein, um mit den fortlaufenden Veränderungen zurechtzukommen. Es muß sich von seiner Vergangenheit und Zukunft lösen lernen, um sich möglichst rasch auf das jeweils Gegenwärtige einzustellen. Daher auch von klein an die Ausrichtung auf umgehenden Konsum von Objekten verschiedenster Art, die die magische Fähigkeit haben, von der Zeit zu lösen und oberflächlich zu beschäftigen.

Erziehung zum Wandel und zur Austauschbarkeit bringt zu wenig Eingrenzung, gibt keinen Bezug zu unwandelbaren Prinzipien. Es vermeidet Konfrontation und Konflikt so gut es geht, arbeitet eher mit Verhandeln und Verführung, und zwar in einem besonderen Stil: „cool“, entspannt, witzig, unterspielend...

Dieser Erziehungsstil relativiert alles und jedes, auch das, was Erzieher nicht relativieren wollen.

In einer solchen Umwelt ist das Unsichtbare nicht am Platz, ist Stille unnütz (ja sie wirkt bedrük-kend), sind Meditation, Reflexion und Gebet nichts als Mätzchen, die man eben ausprobiert, um zu sehen, wie das ist...

Normalerweise werden Kinder somit in unserer Gesellschaft nicht zu einem Leben der Innerlichkeit finden. Das wird nur geschehen, wenn sie „abnormalen“ Menschen begegnen...

Erzieher können zwischen folgenden Alternativen wählen:

• Sie betrachten die moderne Kultur als pervers und verwerfen sie in Bausch und Bogen. Das Kind wird dann in eine Gegenkultur gezogen, wie es bei Sekten und in milderer Form bei Fundamentalisten geschieht.

• Oder die moderne Kultur wird als Faktum, als Geschenk der Vorsehung betrachtet, aus dem man das Beste machen soll. Die Einführung des Kindes in diese Kultur nützt ihre Vorteile und wächst über ihre Mängel hinaus.

Das bedeutet:

• Wir müssen auf dem Recht des Kindes zur Stille bestehen - ohne deswegen den Lärm der Popmusik zu verdammen.

• Wir dürfen nicht das ungehobelte “ Benehmen der Freunde schleehtmachen,- mit denen die Kinder Kameradschaft erleben, müssen aber für das Zustandekommen zuträglicher Begegnungen sorgen.

• Wir müssen den fortwährend laut werdenden Konsumwünschen widerstehen — nicht aus Konsumverachtung, sondern aus dem Wissen, daß Kinder ein Recht auf die Erfahrung der Begrenzung haben. Nur sie macht kreative Kräfte frei.

Der Autor ist Professor für Soziologie in Brüssel, sein Beitrag ein Auszug aus dem Einführungsreferat des Kongresses „The spiritual growth of the child“ (Dezember 1986 in Rom). Die Beiträge auf dieser Seite wurden von Christof Gaspari aus dem Englischen übersetzt.

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