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Als das Reisen noch schön war

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Wir wollten nach Südfrankreich fahren und uns zuvor, wie es sich gehört, auf die Reise vorbereiten. Also durchstöberten wir den Bücherschrank nach einem einschlägigen Reiseführer. Aber leider: Südfrankreich schien seine schwache Seite zu sein. Alles, was sich fand, war ein Baedeker „Sud-Est de la France“, erschienen 1906. Mit ihm war vermutlich unser Großvater an die Riviera gefahren, und seither verstaubte der Band in seinem entlegenen Regal.

Beim Durchblättern fielen zwei Eintrittskarten für den Päpstepalast von Avignon zu Boden. 1906 war Großvater bereits verwitwet. Mit wem also? … Aber wir wollten keine ungebührlichen Fragen stellen. Großvater war von seiner Reise glücklich zurückgekommen, also mußten die Ratschläge, die uns der alte Baedeker zu geben hatte, gut sein.

Daß man während des Sommers in Korsika nicht baden kann, weil da das Sumpffieber herrscht, schien inzwischen überholt. Überholt auch die Geldtabelle, die sich gleich auf der ersten Seite findet. Für eine Mark bekam man 1,25 Francs, aber auch ebenso viele Lire oder Drachmen. Der englische Schilling war mit der Mark gleichwertig, in Österreich erhielt man dafür 1,19 Kronen. Einen Paß mitzunehmen, war damals nicht unbedingt nötig, doch empfahl es sich immerhin: als Ausweisdokument auf der Post. Das Reisen schien damals noch einfach zu sein.

Aber, so riet unser Reiseführer, man sollte vorher einen genauen Kostenplan aufstellen, um Überraschungen zu vermeiden. „In Gesellschaft von Damen sind die Ausgaben natürlich bedeutend teurer“, ermahnte er. Und jedenfalls sollte man immer Kleingeld mit sich führen, denn Trinkgeldempfänger haben niemals Wechselgeld bei sich. Daran hat sich jn den Jahrzehnten seither nicht viel geändert. Will man auf Reisen Eindruck machen, so bedarf es dazu keiner eleganten Toilette, sondern bloß einer gut gefüllten Brieftasche, meint der Ratgeber.

„Das Gepäck ist der Feind des Reisenden!“, mahnt der kluge Baedeker, nicht ohne hinzuzufugen, daß auch Damen, sobald sie zu Touristinnen werden, ihren Kleiderkoffer ruhig ein wenig reduzieren dürfen. Den Herren wird empfohlen, im Flanellhemd zu reisen - man kann es in Städten mit einem weißen Kragen, einem Plastron und einer hochgeschlossenen Weste tragen. Dazu empfiehlt sich ein dunkler Filzhut, doch genügt während der Sommerhitze allenfalls auch ein Hut aus weißem Leinen.

Spannend wird die Bekleidungsfrage, wenn man größere Fußwanderungen plant. Da muß der Hut aus Filz sein, für die Strümpfe empfiehlt sich dicke Wolle, nur das Hemd ist auch hier aus Flanell. Eine Pelerine ist unentbehrlich. Die Schuhe beschlage man mit Nägeln. Spazierstöcke bekommt man überall zu kaufen (Preis: 1 Franc). Man vergesse nicht, einen ledernen Becher und einen Korkzieher mitzunehmen, weiters einen Kompaß, ein Thermometer, ein Barometer und eine Reiseapotheke. Wie man diese Ratschläge in Einklang bringen soll mit der Ermahnung, am Reisegepäck zu sparen, ist allerdings schwer zu begreifen.

Beabsichtigt man Bergbesteigungen, so empfiehlt es sich, ein Pferd oder einen Maulesel zu mieten. Das kostet pro Tag 10-12 Francs, wozu noch 1-2 Francs Trinkgeld kommt und etwa ebensoviel für den Führer. Pferde sind sehr angenehm für den Aufstieg, aber wenn es bergab geht, sollten nur schwindelfreie Personen sie besteigen. Wenn man in Gletscherregionen kömmt, empfiehlt es sich, das Gesicht einzufetten, aber noch besser ist es, vorher Kork zu verbrennen und sich damit das Antlitz zu schwärzen.

Wichtig ist das Verhalten im Grenzbereich. Radfahrer müssen für ihr Vehikel eine Gebühr erlegen, die ihnen bei der Heimreise wieder rückvergütet wird. Die Zöllner interessieren sich hauptsächlich für Tabak, und man hat 25 Francs für das Kilo zu bezahlen. Das Fotografieren läßt man besser bleiben. Von rechts wegen dürfte man im italienischen Grenzgebiet keine Kameras mit sich führen, aber die Karabinieri lassen es für gewöhnlich damit bewenden, daß sie die Apparate amtlich versiegeln.

Nicht ohne Stolz vermerkt der Baedeker, daß das Eisenbahnfähren nun schon recht komfortabel geworden ist. Überall findet man Damenabteile und auch solche für Raucher. In den Coupes erster Klasse gibt es acht Sitzplätze, in der zweiten und dritten zehn. Fernzüge pflegen zur Zeit des Mittag- oder Abendessens lange genug anzuhalten, daß der Reisende im Bahnhofsrestaurant seine Mahlzeit einnehmen kann.

Steigt man am Zielbahnhof in eine Diligence um, benötigt man allerdings dringend Baedekers Ratschläge. Die besten (und auch teuersten) Plätze in diesen Fuhrwerken sind diejenigen im geschlossenen Coupe. Vorne hinter dem Kutscher zu sitzen, empfiehlt sich nur bei Schönwetter. Die billigsten Plätze befinden sich hinter dem Coupe. Hier muß man kräftig Staub schluk- ken, hat aber den Vorteil, daß man

rückwärts blickend die Landschaft ungestört genießen kann.

Im Hotel hat man viele Vorsichtsmaßregeln zu beachten. Ist es ein Haus von Rang, so holt es seine Gäste mit einem eigenen Omnibus von der Station ab. Reisende von bescheidener Kleidung werden nicht selten in die schlechtesten Zimmer verfrachtet. Kommt man abends an, so versäume man ja nicht, sich nach der Lage der Toilette zu erkundigen und sich Streichhölzer geben zu lassen, denn auf dem Zimmer findet man oft keine, ja in manchen Hotels gibt es nicht einmal einen Stiefelknecht.

Auch die Frage der Verpflegung muß reiflich erwogen werden. In der Provinz findet man selten gute Restaurants. Man tut also gut daran, an der Table d’höte zu essen, schon weil man sonst einen Aufschlag zum Zimmerpreis riskiert. Hingegen findet man auch in der Provinz Kaffeehäuser, die „abends der Treffpunkt der Nichtstuer“ sind und wo man alles Nötige findet, um seine Korrespondenz zu erledigen.

Wer keine zu hohen Ansprüche stellt, hält sich am besten an die Hotels, in denen die Reisevertreter absteigen. Man erkennt sie bei der Ankunft an den Omnibussen, die mit schwarzen, kupferbeschlagenen Musterkoffern hoch beladen sind. Die Preise sind bescheiden, die Küche gut, aber man muß damit rechnen, daß die besseren Zimmer für Stammgäste reserviert sind.

Das Reisen scheint also 1906 nicht so ganz einfach gewesen zu sein. Immerhin ist unser Großvater heil und unbeschädigt zurückgekommen. Und dies spricht entschieden für die Qualität der Ratschläge, die ihm sein Baedeker erteilt hat.

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