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Als die Hitler-Jugend das Palais stürmte

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Es ist kaum eine organisatorische Vorbereitung erforderlich, um am 7. Oktober 1938, dem Rosenkranzfest, die überraschend große Zahl von 8000 bis 9000 Jugendlichen im Dom zu St. Stephan zu versammeln - trotz des in Österreich bereits herrschenden Gesinnungsterrors und faktischer Publikationsverbote in der Tagespresse. Gerechnet hat man höchstens mit 2000, weshalb die Veranstalter lediglich 2500 Lieder- und Gesangtexte drucken ließen.

Im Dom sprechen zuerst der Di-özesanseelsorger Dr. Martin Stur und dann - unvorhergesehen - der Kardinal. Von den Machthabern wird nicht so sehr die Feier im Dom als eine Provokation empfunden, sondern das, was sich nachher für kurze Zeit völlig spontan vor dem Dom mit Blickrichtung auf das Kardinalspalais abspielt. Dies im Beisein der Gestapobeamten, die permanent Verhaftungen - wenn auch ohne viel Erfolg - vorzunehmen suchen. Die Tausende vor dem Palais rufen so lange nach dem Kardinal („Wir wollen unseren Bischofsehen“), bis sich dieser am Fenster des Konsistoriaisaales zeigt. Darauf die Jugendlichen in Abwandlung eines NS-Ritualspru-ches „Wir danken unserem Bischof. Mit „Auf zum Schwüre“ (was Gauleiter Bürckel als ein „Schuschnigg-lied“ bezeichnet) endet die Kundgebung - die von den Diktatoren lange erhoffte auslösende Herausforderung und Rechtfertigung, welche zu den Ereignissen des Folgetages führt.

Schon in der Nacht zum 8. Oktober hat es nationalsozialistische Demonstrationen vor dem Palais gegeben. Am 8. Oktober gegen 20.15 Uhr marschieren etwa 100 HJ-Angehörige unter der Führung von einigen Erwachsenen vor dem Palais auf und versuchen, in das Haus einzudringen. Vorerst werden, da die Tore versperrt sind, zur psychischen Entlastung, Fenster eingeschlagen. Im Palais befinden sich zur Zeit des Uberfalles Kardinal Theodor Innitzer, Sekretär (heute Weihbischof) Jakob Weinbacher, Zeremoniär (heute Erzbischof) Franz Jächym und Klosterschwestern.

Als man im Palais bemerkt, daß ein gewaltsames Eindringen versucht wird, verständigt man über Notruf die Polizei. In der Zwischenzeit versucht der H J-Mob das Tor des Palais in der Rotenturmstraße mit Eisenstangen aufzubrechen. Was aber nicht gelingt. Mehr Erfolg hat der Mob beim zweiten Tor am Stephansplatz 7. Neuerlicher Notruf bei der Polizei. Und noch einer. Ohne Resonanz.

„Die Zukunft des deutschen Vol-

kes“ stürmt durch das gewaltsam geöffnete Tor in den ersten Hof und von dort nach links in den Kardinalstrakt. Hinauf zu den Zimmern des Kardinals. Um seiner habhaft ^u werden. Der Kardinal ist jedoch vorsorglich bereits in das mit einer Eisentüre verschlossene Matrikenreferat gebracht worden. Die Klosterschwestern hat man auf dem Dachboden versteckt.

Auf ihrem Weg demolieren die Eindringlinge, was ihnen im Weg steht. Sogar die Putten am Stiegengeländer. Eisenstangen des roten Teppichs werden herausgerissen und als zusätzliches Instrument der Zerstörung benutzt.

In Vorahnung des Kommenden nehmen Franz Jachym und Jakob Weinbacher vor der Hauskapelle Aufstellung. Vorher haben sie die Hostien konsumiert, um eine Entweihung zu verhindern.

Die von Erwachsenen geführten HJ-Buben stürmen das Vorzimmer des Kardinals - am Weg weiter Einrichtung zerschlagend, um aufgestaute Aggressionen „abzulassen“. Dann kommen die Eindringlinge in den Konsistoriaisaal und wenden sich hierauf nach links, um die Hauskapelle zu zerstören. Sie suchen noch immer nach dem Kardinal. Das Eindringen in die Kapelle können Weinbacher und Jachym trotz Uberzahl der Aggressoren verwehren. Dabei erleidet Jachym durch einen Schlag mit einem Bronzeleuchter eine Kopfverletzung. Der Mob versucht Weinbacher aus einem Fenster auf die Rotenturmstraße zu werfen, was im letzten Moment von einem HJ-Führer verhindert wird. (Im Haus Stephansplatz 3 hat man mehr „Erfolg“: Domkurat Kravarik wird aus dem Fenster gestürzt und bleibt Zeit seines Lebens ein Krüppel)

In der Zwischenzeit, 40 Minuten nach der Verständigung, sind schließlich einige Parteigenossen von der Polizei eingetroffen. Ein reichsdeutscher Polizeioffizier, angesichts der Verwüstungen im Palais: „Das sieht ja man toll aus.“ Der Polizeipräsident von Wien, Steinhäusel, hat vom nahegelegenen Cafe de 1* Europe den Überfall seelenruhig beobachtet und erst nach einer ihm angemessen scheinenden Zeit einen Einsatzbefehl gegeben.

Das Resultat des HJ-„Besuches“ im Palais: 1200 zerschlagene Fensterscheiben. Ein Großteil der Einrichtung im Kardinalstrakt ist zerstört. Kleidungsstücke des Kardinals, Brustkreuz und Ring sind gestohlen. Zur „Strafe“ für die „Duldung“ des Uberfalles wird den Hausinsassen vorläufig das Verlassen des Palais untersagt.

Eine Entschuldigung durch die Letztverantwortlichen erfolgt selbstverständlich nicht, auch keine Erklärung für die Absenz der Polizei. Die Gestapo versiegelt die zerstörten Räume für einige Tage. Dem Nuntius wird gestattet, das Palais zu betreten, nicht aber den zerstörten Teil. Was man außerhalb, der versiegelten Räume zü sehen bekommt, ist ohnedies ausreichend beeindruckend, wie ich mich bei einer Führung durch Jakob Weinbacher überzeugen kann. Meinem MK-Präses, P. Ludwig Brog-lie OP, einem Schweizer, gelingt es in einem Uberraschungscoup, Vertretern der internationalen Presse einen Teil des zerstörten Palais zu zeigen, was ihm sofort die Ausweisung einbringt.

Am 13. Oktober 1938 veranstaltet die Gauleitung Wien eine antikatholische Massenkundgebung auf dem Heldenplatz, bei der der betrunkene Gauleiter die 200.000 Teilnehmer -viele waren zum Kommen gezwungen worden - in einer Weise aufhetzt, daß seine Rede international als ein Tiefpunkt an Demagogie klassifiziert wird. Nach Viktor Reimann (Innitzer, S. 194) ist nun Wiens antiklerikale Heerschar, bestehend aus Nationalsozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Freimaurern, in der Lage, „den größten Triumph ihrer Geschichte“ zu feiern. Wenn im zitierten Satz des Buches (Molden 1967) etwa von „Sozialdemokraten“ die Rede ist, sind jene bereits zum Nationalsozialismus „Bekehrten“ gemeint, die nun ab 1938 in fortge--setzte politische Wechseljahre kommen und 1945 ohne Bedenken die nun wieder profitablere Originärgesinnung annahmen. Freilich wird 1938 unverkennbar, daß die radikalen Kirchenhasser aller Riten über Nacht bestens kooperieren.

Mit dem 8. Oktober beginnt der offene Kulturkampf, in Österreich drastische Formen anzunehmen: Von 8000 Priestern und Ordensangehörigen kommen wegen ihres Zeugnisses für ihren Glauben - und nicht, weil ihnen etwa das Stigma sogenannter Rassenmerkmale anhaftet - über 700 in die Gefängnisse. Mehr als 100 sterben in den Konzentrationslagern, 15 werden hingerichtet, 20 im KZ systematisch getötet. Wo war in den aus Anlaß von 40 Jahren Okkupation bei den in Österreich abgehaltenen Amtskundgebungen - um mehr hat es sich kaum gehandelt — vom Blutopfer des Klerus die Rede? Wohl aber vom „Heldentum“ so mancher, die 1938 in einer Art von politischer Prostitution zum Anschluß „freudig mit Ja“ gestimmt haben.

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