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Als in Europa die Lichter ausgingen

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„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen.“ Mit diesen Worten verkündete Adolf Hitler unter dem Reichsadler vor dem Reichstag am 1. September 1939 den Überfall auf das angeblich aggressive Polen. Der für 2. bis 11. September 1939 angesetzte „Reichsparteitag für den Frieden“ wurde abgesagt. In Europa begann es Nacht zu werden.

Am 1. September 1039 - vor . fünfzig'Jahren - brach Hitler den deutsch-polnischen Krieg vom Zaun, der sich dann rasch zu einem europäischen Krieg, danach sogar zu einem Weltkrieg ausweitete. Wer wollte diesen Krieg? Zwei Kontinental-Mächte prägten das Schicksal Europas der dreißiger Jahre: die Sowjetunion und Deutschland. Beide probierten etwas „Neues“ auf dem Gebiet der Gesellschaftsordnung und der Wirtschaft aus. In der Sowjetunion wurden unter dem kommunistischen Diktator Jossip Stalin enorme Anstrengungen unternommen, nach der Verkündigung des Auf baus des Sozialismus (1936) in absehbarer Zeit den Kommunismus im Lande zu errichten.

Daneben sollten auch die alten Ziele der Kommunisten verfolgt werden: das heißt, die Welt, vor allem aber Europa, zu „revolutionie-ren .

In Deutschland war zum selben Zeitpunkt Adolf Hitler an der Macht. Seine National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei versuchte auf rein nationalistischer Basis eine „neue Welt“ aufzubauen. Die NSDAP ritt gegen Liberalismus und gegen Kommunismus ständige Attacken. Außenpolitisch wollte Hitler die territorialen Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges für Deutschland wettmachen.

Und noch mehr: die Ausdehnung seiner Macht in den Osten Europas. Österreich war im Visier Hitlers, und es gelang ihm auch, das Land -ohne Krieg -1938 in das Deutsche Reich einzuverleiben. Dann folgte das Sudetenland, die Tschechei, und im Frühjahr 1939 der erste Versuch, auch in Polen - wegen des Freistaates Danzig beziehungsweise für einen Straßen-Korridor dahin — „aufzuräumen“.

Hier traf Hitler jedoch auf Widerstand. Die Westmächte (Frankreich und Großbritannien), die bisher, um den europäischen Frieden zu erhalten, dem braunen Diktator stets Konzessionen machten, sagten plötzlich: Nein! Am 31. März 1939 garantierte die Londoner Regierung die Unabhängigkeit der Polnischen Republik beziehungsweise die Unantastbarkeit ihrer (westlichen und nördlichen) Grenzen. Paris zog am selben Tag mit einer Garantieerklärung nach.

Daraufhin disponierte Hitler um. Wenn es nicht auf friedlichem Wege gehe, dann sollte man Polen mittels eines Krieges niederwerfen!

Die Anstrengungen der britischen und französischen Regierungen - die nunmehr im Frühjahr 1939 Kriegsgefahr in Europa heraufdämmern sahen —, die Sowjetunion für eine Militärallianz gegen Deutschland zu gewinnen, scheiterten. Stalin hatte Gegenforderungen: die Einbeziehung der damals noch freien baltischen Staaten in den sowjetischen Machtbereich und die Zustimmung der polnischen Regierung für einen Durchmarsch der Roten Armee durchpolnisches (und rumänisches) Staatsgebiet - wovon weder Warschau noch Bukarest etwas wissen wollten. Denn sie ahnten: wo die Rote Armee einmal einzieht, von dort wird sie nicht mehr weichen.

So stagnierten die Verhandlungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion. Inzwischen aber unternahm Stalin etwas Unvorhergesehenes. Schon im Jänner 1939 war ihm aufgefallen, daß Hitler beim Jahresempfang in der Reichskanzlei unerwartet Aufmerksamkeit und Freundlichkeit dem sowjetischen Geschäftsträger gegenüber zeigte, den man sonst ignorierte.

Anscheinend nahm Stalin das als Signal und handelte. Ende April 1939 wurde auf geheimem Wege Kontakt mit der Reichskanzlei in Berlin geknüpft. Stalin sondierte behutsam das Terrain: Für ihn wäre es gut gewesen, wenn es in West-Europa zu einem Krieg gekommen wäre und sich die „Kapitalisten“ gegenseitig geschwächt hätten. Was Polen betrifft: auf diese Republik hatte auch der Kremlherr Appetit -war doch ein beträchtlicher Teil Polens bis 1918 russischer imperialer Besitz.

Da Berlin nunmehr zu einem Krieg gegen Polen rüstete und dazu einen Waffenbruder benötigte, hatte man die sowjetische Annäherung selbst positiv bewertet. Stalin Heß den bisherigen langjährigen Außenminister der UdSSR M M Litwinow am 3. Mai abrupt ablösen. Dieser war nämlich Jude und somit ungeeignet, mit Hitlers Leuten direkt zu verhandeln.

WjatscheslawMolotow, Russe und ,Arier“, trat an Litwinows Stelle. Und Ende Juni erschien ein Grundsatz-Artikel in der Moskauer Presse, verfaßt von A. A. Schdanow, einem engen Vertrauten Stalins mit dem vielsagenden Titel: „Die britische und französische Regierung wollenkeine gleichwertigen Verträge mit der UdSSR abschließen!“ Damit wollten die Sowjets die Öffentlichkeit West-Europas frühzeitig vorbereiten: nicht Moskau, sondern die Westmächte sabotierten den Abschluß eines gemeinsamen Militärpaktes gegen Hitler!

Und plötzlich gewannen die Ereignisse eine Eigendynamik. Ende Juli 1939 kamen die deutsch-sowjetischen Wirtschafts Verhandlungen in Schwung. Eine britische und eine französische Militärmission traf im August in Moskau ein, um den am 24. Juli 1939 geschlossenen Beistandsvertrag zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion auf militärischem Gebiet zu präzisieren.

Doch weder der Beistandsvertrag noch seine militärische Variante traten in Kraft!

Am 17. August wurden die Moskauer Verhandlungen unterbrochen. Am 21. August teilte Marschall Woroschilow, Verteidigungsminister und Chef der Verhandlungen mit den Westmächten, den ausländischen Gästen mit, er sehe keinen Grund weiter zu Verhandeini Zu diesem Zeitpunkt hatte schon Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop alle Vollmachten bei sich, und bereitete sich auf eine Reise nach Moskau vor.

Diese erfolgte am 23. August. Die Welt war verblüfft, wie herzlich der Deutsche von den Sowjets empfangen wurde. Sofort begannen die Verhandlungen. Sie liefen reibungslos ab - sogar Stalin erschien und erhob sein Glas auf das Wohl Hitlers (FURCHE 32/1989). Noch vor Mittemacht des 23. August wurde ein deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt abgeschlossen, darin ein. geheimes Zusatzprotokoll, dessen Existenz die offizielle Sowjetunion bis Juni 1989 noch leugnete.

Hier wurden neue Grenz- und Interessensphären zwischen Deutschland und der Sowjetunion gezogen (siehe Grafik), ganze Völker in die Einflußzone des Ostens verschoben. Deutschland erklärte nämlich, daß Estland, Lettland, Finnland, Bessarabien und Polen östlich der Flüsse Pissa, Narew, Weichsel und San außerhalb seiner Interessensphäre liegen.

Die Sowjetunion erklärte ihrerseits ihr Desinteresse anpolnischem Gebiet westlich dieser Linie sowie an Litauen.

Die Weltöffentlichkeit staunte, die bisher verfeindeten Staaten wurden plötzlich Freunde. „Es ist aus mit der Welt! Denn wenn Feuer und Wasser sich mengt, kann nur noch Rauch entstehen!“, kommentierte ein ungarischer KP-Emigrant in Moskau das Ereignis. Und seine Frau, eine gebürtige Russin, sprach an diesem Augustabend für viele Millionen ihrer Landsleute das Verdikt aus: „Daß Stalin sich mit den Faschisten verbündete, ist auf alle Fälle ein Übel, selbst dann, wenn dieser Pakt der Sowjetunion vorübergehend Vorteile bringt. Denn: die europäischen Arbeiter werden Stalin diesen Schritt niemals verzeihen!“

In der Tat: Stalins Pakt mit Deutschland war ein gemeiner Verrat am Ideengut des kommunistischen Internationalismus und am kämpferischen Antifaschismus. Das war ein Schock für die Kommunisten weltweit. Andererseitsmuß man zugeben: Stalin wollte für sein Reich Zeit und ohne Risiko der UdSSR neue Gebiete gewinnen. Dies konnte er nur mit Hitlers Hilfe und Unterstützung. Und Hitler?

Der deutsche Führer konnte aufatmen. Seine Pläne, Polen zu vernichten, waren nunmehr durch den Pakt mit Stalin spruchreif. Sollte es auch wegen Polen zu einem Krieg mit den Westmächten kommen, müßte er sich nicht von einem Zweifrontenkrieg fürchten. Denn im Osten hatte er bereits einen geheimen Verbündetem Stalin. Und dieser würde auch rechtzeitig militärisch in den Polenkrieg eingreifen, um die Eroberung rasch zu erledigen.

Ende August 1939 waren alle Vermittlungsvorschläge des Westens und sogar Mussolinis gescheitert

Am 1. September 1939 begann die deutsche Offensive gegen Polen. Am 17. September marschierte die Rote Armee in den östlichen Gebieten Polens ein und half mit, den Todesschuß auf die bereits am Boden liegende Polnische Republik abzugeben.

Inzwischen - in Treue zu ihren Bündnisverpflichtungen - erklärten Großbritannien und Frankreich ihrerseits am 3. September den Krieg ans Großdeutsche Reich.

Die Weichen in Europa wurden gestellt. Die fünf apokalyptischen Reiter traten in Aktion. Die Lichter in Europa begannen auszugehen...

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