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Als Österreich zur Ostmark wurde

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Dieser Band ist nicht nur für den Historiker, sondern auch für den intelligenten Laien eine reine oder fast reine Freude. Für die Jugend, die diese „Große Zeit” nicht miterlebt hat, vermittelt er ein Stück wertvollster ergänzender Bildung, das sie und uns alle etwas verspätet erreicht. Denn die Lesung dieser Aufsätze mitsamt der nachfolgenden Diskussion erfolgte schon vor fast vier Jahren.

Doch auch für das verspätete Geschenk sollten wir dankbar sein. Die Beiträge auf 444 Seiten stammen von namhaften Historikern, vorwiegend Zeitgenossen des „Umbruchs”, die weltanschaulich sehr verschiedenen Lagern angehören.

In dieser zweitägigen Konferenz im März 1978 wurde der „Anschluß” von Restösterreich an das braun-braunauische Großpreußen von vielen Seiten gründlich beleuchtet. So erscheint dann der Anschluß als internationale Frage, dann vom Standpunkt Jugoslawiens und der Kleinen Entente, als konvulsives, lokales Ereignis zwischen dem 22. Februar und dem 10. April 1938, als militärisches, finanzielles und wirtschaftliches Problem und schließlich als Zielsetzung der NSDAP.

Eigene Beiträge beschäftigen sich mit dem nicht stattgefundenen als auch mit dem abgehaltenen Plebiszit, dem „nationalen Lager”, dem konfessionellen und „rassischen” Aspekt. Ich bin überzeugt, daß viele Leser von dieser Sammlung so einiges lernen können (ich habe es auch getan) und die Debatte außerordentlich interessant finden werden.

Besonders hervorzuheben sind die Analyse des „nationalen Lagers” von Professor Wandruszka, die zwei Essays über unsere Nachbarn als auch die Schilderung der wenig realisierten finanziellen und wirtschaftlichen Hilfe, die Österreich ungewollt dem Dritten Reich geleistet hatte.

Glücklicherweise kam keiner der Redner auf den Gedanken, daß ein großer Staatsmann das Unheil von uns hätte abwenden können. Auch ein geeintes österreichisches Volk, nicht hin- und hergerissen zwischen Nationalsozialismus, Internationalsozialis-mus und Patriotismus, hätte nach dem Ende der Schutzherrschaft durch das faschistische Italien dem Übel keinen echten Widerstand leisten können.

Hätten wir unsere Grenzen militärisch, wenn auch nur symbolisch verteidigen sollen? Das hätte uns wenig genützt! Der demokratische Westen hätte uns genau so kaltblütig zu Okkasionspreisen verkauft wie er es mit Freund und Feind im östlichen Europa nach 1945 getan hatte. Nur durch ein Wunder kamen wir mit einem blauen Auge davon.

Immerhin vermißt der Historiker hier einiges: so zum Beispiel — gerade für die Jugend — einen Rückgriff auf die spezifisch deutsche Vergangenheit des Habsburgerreiches. (Es gab „Anschlußfreunde”, die gar nicht „national” sondern „reichsrömisch” dachten und keineswegs ein NS-Reich ersehnten.)

Es fehlt ferner ein Hinweis auf die Tatsache, daß die Diktate von 1919 nicht nur den Anschluß; sondern den Zweiten Weltkrieg und geopolitisch die deutsche Herrschaft in ganz Mitteleuropa vorprogrammierten, wie es Fritz Kornemann in seiner Breslauer Rektoratsrede 1926 mit großer Präzision darstellte. (Der „Fall” Kleinösterreichs riß dann die restlichen Dominosteine mit sich.)

Man bedauert auch die fehlende

Erwähnung des antiösterrei-chisch-antihabsburgisch-antika-tholischen Komplexes in einem ganz weiten Bereich. Diese Front reichte von Washington bis Berchtesgaden, von London bis Belgrad, von Paris bis Prag und Moskau. Professor Jedlickas Tod machte die Hoffnung auf einen Italien-Beitrag zunichte.

Bemängeln möchte man auch die gelegentliche Verwendung des Wortes „Faschismus” für den Nationalsozialismus—eine sowjetische Sprachverordnung — und dies umsomehr, als die NS-Ideolo-gie die ältere ist. Schließlich fehlt auch ein Sonderbeitrag über die Tschechoslowakei und das Geheimverständnis zwischen Hitler und Benes.

Man kann diesen Band nicht aus der Hand legen ohne sich an die Worte Julius III. zu erinnern, der mit starker Untertreibung gesagt hatte, die Welt werde durch wenig Weisheit regiert. Und man müßte melancholisch hinzufügen, daß die mangelnde Weisheit bei den „Eliten” als auch beim lieben Volk durch ein völliges Fehlen von Charakter schmerzlich ergänzt wird.

ANSCHLUSS 1938. Wissenschaftliche Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österr. Geschichte von 1918-1938. Band 7. Verlag für Geschichte und Politik. Wien 1981. 464 Seiten, kart. öS 480.-.

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