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Als zur See die Revolten keimten

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Zwei Bände umfaßt ein Werk, in dem sich der Historiker Richard Plaschka ausführlich eines gerade auch für „Landratten“ faszinierenden Themas annimmt: den Krisenkonfrontationen zur See von 1900 bis 1918.

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Zwei Bände umfaßt ein Werk, in dem sich der Historiker Richard Plaschka ausführlich eines gerade auch für „Landratten“ faszinierenden Themas annimmt: den Krisenkonfrontationen zur See von 1900 bis 1918.

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Am Beginn lenkt Plaschka, Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, den Blick auf die letzte gemeinsame Aktion der europäischen Mächte, bevor diese in einer Art kollektiven Selbstmord im Ersten Weltkrieg zugunsten außereuropäischer Kräfte abdankten. Es war dies ein auf die Kriegsflotten mehrerer Nationen abgestütztes Unternehmen, an dem sich in einer Front Engländer und Deutsche, Franzosen und Italiener, Russen und auch Einheiten Österreich-Ungarns beteiligten. Es waren aber auch außereuropäische Mächte, nämlich die USA und Japan, mit von der Partie.

Ziel des Unternehmens war der Entsatz der bedrohten Gesandtschaft in Peking, wo als Reaktion auf die Schwäche der kaiserlichen Gewalt und ihren Konzessionen gegenüber einer Reihe europäischer und imperialistischer Mächte, der von extremer Fremdenfeindlichkeit genährte sogenannte „Boxeraufstand“ wütete.

Plaschka wägt kühl und nüchtern auf Grund des reichlich vorliegenden Materials ab. Er weist auf die Greueltaten der Boxer an europäischen Missionaren, aber auch vor allen an chinesischen Christen hin.

Er unterschlägt aber auch nicht, daß die europäische Reaktion vor allen Dingen auf den Mord an dem deutschen Gesandten Ketteier keineswegs ein Kreuzzug zur Rettung der heiligsten Güter der Menschheit war. In ihr hatten Raub und Mordlust der weißen Soldaten ebenso wie sehr irdische Interessen ihrer Regierungen auch einen Platz.

Wenige Jahre später sehen wir die Interventionstruppen von Peking nicht mehr Schulter an Schulter. Das Rußland des Zaren führt Krieg gegen das aufstehende Nippon. Rußlands Macht im Fernen Osten ist bedroht. Immer enger zieht sich der japanische Belagerungsring um Port Arthur und die hier stationierte 1. Pazifische Flotte.

Da entschließt man sich im fernen Petersburg zu einem spektakulären Unternehmen. Das Gros der russischen Ostseeflotte soll Entsatz bringen und das Kriegsglück wenden. In aller Eile wird eine Armada ausgerüstet, der es sowohl an einer der Zeit entsprechenden modernen Infrastruktur, wie auch an hoher Manneszucht fehlt. Das konnte nicht gut gehen. Das Ende ist als die Seeschlacht in der Straße von Tsushima in der Seekriegsgeschichte verzeichnet.

Unverständlich, warum nach dem Verlust Port Arthurs und der Zerschlagung der 1. Pazifischen Flotte durch den Feind St. Petersburg keine Rückzugsorder an Vizeadmiral Rozestvenskij und seine „verlorenen Hunde“ ergehen hatte lassen. Das Ergebnis: Der Zar verlor in Tsushima mehr als eine Flotte, mehr als eine Schlacht, mehr als einen Krieg. Das zaristische Rußland holte sich hier 1905 seinen Todeskeim.

Fern am ostasiatischen Kriegsschauplatz zerbrach auch das erste Mal die innere Struktur der Kriegsmaschine des Rußlands der Romanow. Die Rebellion auf dem Panzerkreuzer „Potemkin“ der Schwarzmeerflotte — durch Eisensteins Filmklassiker später zu Weltruhm gelangt — machte dies vor aller Welt sichtbar.

Steppenbrände sind jedoch nicht zu lokalisieren, deshalb wurden auch „Wilhelmshaven“ für das wilhelminische Deutschland und „Cattaro“ für die Donaumonarchie maritime Sturmzeichen, die ankündigten, daß auch in diesen Ländern eine Zeitenwende bevorstand.

Warum erwiesen sich stets die Flotten, die hochgepäppelten Lieblingskinder unter den verschiedenen Waffengattungen zu Beginn dieses Jahrhunderts aller auf Machtdemonstration erpichten Staaten, als anfällig für den revolutionären Bazillus?

Auch darauf gibt der Autor in seinem mit großer Akribie und Liebe zum Detail erarbeiteten Standardwerk eine Antwort:

„Gleich wie in Retorten, verschärft durch die Enge der Raumgegebenheiten und durch die

Zwänge der Befehls- und Gehorsamsstrukturen, stellten sich die Fragen der lebensnächsten Bereiche wie die ihrer politischen Perspektiven mit besonderer Eindringlichkeit. Erlahmte die Motivationskraft der Leitbilder der staatlichen und militärischen Führung, kamen Momente wie sinkende Versorgungsausstattungen und ideologische Gegenmotivationen hinzu, dann sollte die Reizschwelle zur Auflehnung unter den Mannschaften sich als relativ niedrig erweisen. Dann sollte allerdings auch die Frage des Führungsverhaltens in Extremsituationen auf der Waage stehen.“

Es war schon so, wie Richard G. Plaschka resümierend feststellt:

,.Die Herausforderungen kreuzten einander: Schiffe und Besatzungen als Träger der Herausforderung der Mächte — Symbol der Angriffskraft ihres Staates; Besatzungsteile der Schiffe als Träger der Herausforderung einer sozialen Gruppe gegen das System im Staat — Symbol der Angriffskraft ihrer Klasse. Die ausgewählten sechs Modellfälle — auf die Flotten Rußlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns sowie auf die A bläufe vor Taku, Tsushima und den Falklandinseln, vor Tendra, Wilhelmshaven und Cattaro bezogen — sollen diese Herausforderungen verdeutlichen.“

Zwei Bände, für die die Bezeichnung Standardwerk nicht zu hoch gegriffen erscheint.

MATROSEN, OFFIZIERE, REBELLEN. Krisenkonfrontationen zur See 1900-1918. Teil 1: Faktoren der Expansion. Teil 2: Keimzellen der Revolution. Von Richard G. Plaschka. Böhlau Verlag, Wien-Köln-Graz 1985.2 Bände, 775 Seiten. 70 Abb., Ln., öS 569,-.

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