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Also doch Ausnahmezustand

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Damit, daß die tiirkisęfie Armee nun doch eingegriffen und den Ausnahmezustand verhängt hat, haben die Terroristen der Linken ebenso wie die der Rechten ein gemeinsames Ziel erreicht: Es ist ihnen gelungen, der Glaubwürdigkeit des neuen Premiers Erim, der keineswegs auf demokratischem Weg an die Macht gebracht wurde, aber demokratisch regieren will, einen ernsten Stoß zu versetzen. Die reaktionäre islamische Rechte ist gegen Erim, weil sie seine Reformen nicht wünscht. Die revolutionäre militante Linke ist gegen Erim, weil sie fürchtet, es könnten ihm Reformen gelingen und weil sie Revolution und nicht inneren Frieden und Entspannung wünscht. Linke wie rechte Extremisten wollen die Türkei aus der NATO herausbrechen und enger in das islamisch-arabische Umfeld integrieren. Ernster noch als das nächtliche Ausgehverbot ist die Warnung der Armee an die Adresse der für Offiziersgeschmack zu kritischen Massenmedien zu nehmen. Ein solcher Schritt ist immer ein Schritt in Richtung Diktatur.

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Damit, daß die tiirkisęfie Armee nun doch eingegriffen und den Ausnahmezustand verhängt hat, haben die Terroristen der Linken ebenso wie die der Rechten ein gemeinsames Ziel erreicht: Es ist ihnen gelungen, der Glaubwürdigkeit des neuen Premiers Erim, der keineswegs auf demokratischem Weg an die Macht gebracht wurde, aber demokratisch regieren will, einen ernsten Stoß zu versetzen. Die reaktionäre islamische Rechte ist gegen Erim, weil sie seine Reformen nicht wünscht. Die revolutionäre militante Linke ist gegen Erim, weil sie fürchtet, es könnten ihm Reformen gelingen und weil sie Revolution und nicht inneren Frieden und Entspannung wünscht. Linke wie rechte Extremisten wollen die Türkei aus der NATO herausbrechen und enger in das islamisch-arabische Umfeld integrieren. Ernster noch als das nächtliche Ausgehverbot ist die Warnung der Armee an die Adresse der für Offiziersgeschmack zu kritischen Massenmedien zu nehmen. Ein solcher Schritt ist immer ein Schritt in Richtung Diktatur.

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Obwohl die türkische „Volkskammer” dem neuen Ministerpräsidenten Nihat Erim bei der nach seiner Regierungserklärung abgehaltenen Vertrauensabstimmung eine eindrucksvolle Stimmenmehrheit bescherte, regt sich bereits erster parlamentarischer Widerstand gegen seine Reformpläne. Der Regierungschef habe, indem er die Mehrheit seiner Kabinettsmitglieder aus Technokratenkreisen rekrutierte und keine Rücksicht auf Parteizugehörigkeit oder politische Erfahrung genommen habe, dem Parlament gegenüber Mißtrauen bezeugt.

Dies trifft den wunden Punkt des neuen Regimes. Professor Erim kann sich, solange er Erfolge vorzuweisen hat, auf die Armeespitze stützen, die ihn in den Vordergrund geschoben hat. Sein demonstrativer Austritt aus der „Gerechtigkeitspartei” Ismet Inönüs erhöht zwar seine Glaubwürdigkeit als Premier eines Mehr- parteienkabinettes der nationalen Konzentration, aber es fragt sich doch, ob er nicht besser daran getan hätte, wenigstens die wichtigsten Schlüsselposten mit prominenten Exponenten der sein Kabinett unterstützenden Parteien, also erfahrenen Parlamentariern, zu besetzen. Dieses Versäumnis beeinträchtigt schon jetzt die Basis der Regierung in der „Volkskammer”.

Erim hat versprochen, sein einziges Ziel sei die Rettung der Demokratie durch die Durchführung der überfällig gewordenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Parteiunabhängige Technokraten tun sich bei der Ausarbeitung umwälzender Reformpläne gewiß leichter als die von ihren parteipolitischen Interessen abhängigen, gewählten Politiker. Reformen, und seien sie noch so notwendig, gegen diese Interessen durchsetzen zu wollen, bedeutet jedoch Diktatur. In einer Demokratie ist wichtig nicht nur, was gemacht werden muß, sondern auch, wie es machbar ist.

Erims Berater sind schon in den ersten vier Wochen mit bemerkenswerter Energie an die Arbeit gegangen. Als Haupthindernis einer zielstrebigen weiteren Modernisierung ihres Landes, getreu dem noch immer sakrosankten laizistisch-dirigistischen Konzept des Staatsgründers Kernai Atatürk, erkannten sie rasch die schleichende Re-Islamisie- rung der letzten beiden Jahrzehnte.

Der 1961 gestürzte Premier Adnan Menderes hatte sich die parlamentarische Basis durch immer größere Zugeständnisse an die konservative Landbevölkerung und die sich auf ihre Gläubigkeit stützenden islamischen Mullahs erkauft. Obwohl die um das kemalistische Staatsideal fürchtenden Militärs seinerzeit diese Entwicklung brutal unterbrachen und die Verantwortlichen hinrichten ließen, betrieb der anschließend gewählte Regierungschef Demdrel bald die gleiche Politik.

In seiner Amtszeit wurden Moscheen schneller gebaut als Schulen, und eine stockreaktionäre Aktivisten- gruppe, die die Religiosität der Bevölkerungsmehrheit dazu benutzen wollte, das Staatsruder um 180 Grad herumzuwerferij plante unter anderem die Umwandlung der einstmals christlichen Kirche und heutzutage als Museum dienenden „Hagia Sophia” in Istanbul in eine Moschee, die Schließung und Zerstörung der Stambuler Ballettschule, die Wiedereinführung des obligatorischen Frauenschleiers und das Verbot aller laizistischen Parteien. Wie populär solche Forderungen and, beweist uhtecr anderem die Tatsache, daß die Mullahs im vorwiegend dörflichen anatolischen Hochland auch 50 Jahre nach der kemalisti- schen Revolution noch immer die (verbotene) Vielehe weihen.

Dieser reaktionären Entwicklung zu steuern, bedarf es der von dem Kabi nett Erim angestrebten sozialen Reformen. Man müßte aber auch eine ideologische und memschliche Entfremdung der Landbevölkerung vermeiden und, daß dia an ihren Traditionen hängenden Bauern den Staat noch mehr als bisher als Feind betrachten. Das kann nur geschehen, indem man sich für jedes Reformvorhaben eine parlamentarische Mehrheit zu sichern versucht. Gerade darauf scheint Ministerpräsident Erim jedoch keinen großen Wert zu legen. Er vertraut vielmehr auf seine von parlamentarischen Rücksichtnahmen nicht angekränkelten Technokraten und den Rückhalt bei der Armee. Er hat mit der Ankündigung umfassender Maßnahmen gegen die traditionellen islamischen Kreise bereits viele Parlamentarier vor den Kopf gestoßen. Sein Vorgehen verstärkt aber auch die Gefahr einer Koalition zwischen den außerparlamentarischen Gegnern auf der Linken und auf der Rechten.

Die reaktionäre islamische Rechte, die er, wenn er echte Fortschritte erzielen will, zurückdrängen muß, ist sich mit den promarxistischen jüngeren Offizieren und den Studenten in einem wesentlichen Punkt einig: beide Seiten wünschen ein Ausscheren der Türkei aus dem westlichen Bündnis und ihre Hinwendung zum arabisch-islamischen Umfeld. Manches läßt darauf schließen, daß es zwischen beiden Richtungen bereits einige Kontakte gibt.

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