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Altdeutsche Würde, moderner Geist

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G. B. Shaw hielt ihn für altmodisch, Schönberg nannte ihn progressiv: die Diskussion über Brahms zeigt immer neue Facetten in dem von vielen geliebten, von wenigen verstandenen Werk des norddeutschen Meisters.

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G. B. Shaw hielt ihn für altmodisch, Schönberg nannte ihn progressiv: die Diskussion über Brahms zeigt immer neue Facetten in dem von vielen geliebten, von wenigen verstandenen Werk des norddeutschen Meisters.

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Tausende Menschen säumten an jenem 6. April 1897 die Straße — von der Karlsgasse 4, dem Sterbehaus Johannes Brahms, wo am Tag des Begräbnisses der Sarg in einer gläsernen Kalesche mit sechs Rappen wartete, über den Karlsplatz bis zum Musikvereinsgebäude. Alle wollten das Monsterspektakel sehen, das den Wienern noch einmal einen Abglanz ihres größten Straßenumzugs, des Makart-Festzugs von 1879, bescherte.

Liest man die Beschreibung dieses Trauerzugs bei Max Kalbeck, dem Freund und ersten Biographen Brahms’, so denkt man eigentlich mehr an eine Operninszenierung von fürstlicher Prunk-

entfaltung als an ein Komponi-, stenbegräbnis.

„Um halbdrei Uhr setzte sich der Trauerzug in Bewegung. Voran ritt ein Standartenträger in altspanischer Tracht, der sein mit Lorbeer umflochtenes Banner emporhielt. Ihm folgten Laternenreiter, welche sechs unter der Last unzähliger Kränze, Palmenzweige und Sträuße schwankende Blumenwagen geleiteten. Hinter dem mit einer Lyra gekrönten Leichenwagen schritten drei Hausoffiziere der Entreprise mit… Samtpolstern (darauf die Ehrenbürgerkrone Brahms, seine Orden und eine goldene Leier). Zu beiden Seiten des Sarges gingen Diener der Gesellschaft der Musikfreunde und Diener der .Concordia4 mit Windlichtem und Initial-Wappenschildern. Dem Sarge schlossen sich die Trauergäste (1 an.

Brahms Freunde, die ihn aufrichtig verehrten, nahmen Abschied: eine Handvoll Menschen. Aber was erwarteten all die anderen, die Tausenden, die den scheuen alten Herrn ja gar nicht persönlich kannten, die bestenfalls den schrullig-merkwürdigen Alten mit dem zottigen Bart, den etwas zu kurzen Hosen und den Schnürschuhen vom Musikertreff, dem Gasthaus zum Roten Igel, nach Hause traben sahen? Und die bestenfalls über den merkwürdigen Mann lachten, von dem es hieß, er komponiere „Das Grab ist meine Freude“, wenn er gerade besonders gut aufgelegt sei?

Sie bewunderten in seinem Werk, wie er ihrer Meinung nach ihre eigene glanzvolle bürgerliche Welt des Fortschritts in seine Musik gefaßt hatte. Übersteigerte Monumentalität, das Triumphgefühl, auf dem Höhepunkt einer fortschrittlichen Zeit zu stehen und das klassische Erbe seit Beethoven fortgeführt zu haben, und dann die bürgerliche Würde, die fast altdeutsch anmutete… das war es, was die meisten Zeitgenossen in Brahms’ Symphonien, im Deutschen Requiem, in der Burschenschafterherrlichkeit der Akademischen Festouvertüre, in der titanenhaften Tragischen Ouvertüre und in den gewaltigen Klangmasseentladungen der Klavierkonzerte bewunderten.

Am 7. Mai 1833, also vor 150 Jahren, wurde Johannes Brahms als Sohn des stellvertretenden Kontrabassisten im Konzertpavillon an der Alster in einem Hinterhaus des Hamburger Gängeviertels geboren. Der 29jährige, ein fabelhafter „Klavierspieler“, wie der Vater es sich gewünscht hatte, kam zum 50jährigen Jubiläum der Gesellschaft der Musikfreunde im November 1862 nach Wien. Er kam, sah, kam immer wieder, blieb schließlich. Und wurde von der Gesellschaft des glanzvoll sich entfaltenden Ringstraßen- Wien aufgenommen. Ja, die Gesellschaft stilisierte ihn schließlich zu einer Art Leitfigur, sah sie doch in ihm und seinem Werk die Ubergipfelung des Erbes von Bach und Beethoven. Aber sie stand andrerseits jenen seiner Werke verständnislos gegenüber, in denen er unmißverständlich ausdrückte, daß „es der Weltgeist des .Freude schöner Götterfunke’ irgendwann einmal satt bekommen hat, die ganze Menschheit umsorgen zu müssen“.

Gerade diese Wende in Brahms Schaffen, seine Abwendung von Beethovens Geniemusik im Namen des Weltgeistes, wurde lange Zeit geflissentlich ignoriert.

Was Wiens Gesellschaft und Musikkenner im Schaffen Brahms’ dieses Meisters einer bürgerlichen, protestantischen und im weitesten Sinne deutschen Gesinnung, so bewunderten, war nicht der „neue“ Brahms, sondern der Meister der bürgerlichen Selbstdarstellung. Denn wo man das Neue in seinen Werken als neu erkannte, lehnte man ihn sogar ab: als spröde, als gewissenhaftskrupulös, als todessehnsüchtig und akademisch-langweilig.

Richard Wagner spottete zum Beispiel, Brahms habe sich im „Deutschen Requiem“ Handels Halleluja-Perücke übergestülpt. Und der Kritiken schreibende Kronzeuge der Brahms- Rezeption, der Dramatiker George Bernhard Shaw kreidete Brahms „Deutschen Requiem“ sogar „angestrengten Modernismus“ an, „der den ganzen Vorgang nur noch um so verzweifelter altmodisch und leer erscheinen läßt.“

Shaw hatte wie die meisten Zeitgenossen nicht erkannt, daß Brahms sein Augenmerk längst nicht mehr auf die Beethovensche „Weltumarmung“ richtete, sondern daß er. sich mit der für ihn typischen Gewissenhaftigkeit anstrengte, die musikalische Form selbst zu einer Botschaft zu machen, um den Formgedanken schlechthin zu verändern.

Schon deshalb war Brahms fest davon überzeugt, daß nicht seine Erste Symphonie, die von den Zeitgenossen als Beethovens „Zehnte“ und als Vollendung klassischen Geistes gefeiert wurde, sondern daß die „Vierte“, also seine von Widersachern wie Hugo

Wolf heftig attackierte letzte Symphonie, den Höhepunkt symphonischen Schaffens darstellte.

Da wurde sein Denken, seine Absicht, das Neue unüberhörbar. Brahms stand mit einemmal als Veränderer da. Er war an einem Punkt angelangt, „an dem die Unterordnung unter rationale konstruktive Prinzipien… im Bereich streng tonaler Musik zu ähnlichen Ergebnissen führte… wie 25 Jahre später zur Ausbildung der Zwölfton-Theorie“ (Siegfried Kross in einer Studie im Auftrag der Brahms-Gesellschaft, Hamburg).

Selbst Arnold Schönberg rühmte Brahms’ geistigen Vorstoß ins Neuland in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Brahms The Progressive“, nachdem er schon mit seinen Schülern Alban Berg, Anton von Webern, Hanns Eisler und Renė Leibowitz gründlich Brahms-Partituren studiert hatte. Bekannt ist auch, daß der alte Schönberg sich bemühte, Brahms Jugendwerk, das Klavierquartett g-Moll (op. 25) für großes Orchester zu instrumentieren, um Brahms’ Form-Klang-Denken deutlicher zu machen. Denn für Schönberg war es Brahms’ größte Leistung, daß er durch die Durchdringung der Form die endgültige Ablösung des dualistischen Prinzips im klassischen Sonatensatz eingeleitet hatte und daß Brahms so formales Freiland eroberte, das Wagners Neuerungen nicht nachstand.

Heute, 150 Jahre nach Brahms’ Geburtstag und 86 Jahre nach seinem Tod, kann natürlich niemand mehr den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, in Sachen Brahms ein grundsätzlich neues Verstehen oder eine grundsätzlich neue Interpretation einzuleiten. Denn umstritten ist in Brahms Schaffen heute kein einziges Werk mehr. Für jeden Künstler und Musikfreund bleibt aber sein Werk eine immer neue Herausforderung. Denn Brahms zu lieben ist vielleicht leichter geworden, sicher aber nicht Brahms zu verstehen. Leichter zugänglich ist sein Werk auch in der Distanz von rund hundert Jahren nicht geworden.

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