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Alternativen zur Schulmedizin ?

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Alle suchen heute „Wege aus der Krise”. Für die Medizin machen sich dieser Tage kluge Köpfe beim 11. Salzburger Humanismusgespräch („Wie krank ist unsere Medizin?”) Gedanken. Die FURCHE wird sich dieser Thematik in den nächsten Wochen mehrmals widmen.

Ein alter Mann wurde (im Spital nach einem Autounfall) gefragt: „Wer ist Ihr Arzt?”

Seine Antwort: „Ob mich ein Arzt auf der Straße versorgt hat, weiß ich nicht. Den, der mich operiert hat, habe ich nicht gesehen. Als ich von der Narkose erwachte, kümmerte sich einer sehr lieb um mich, ich glaube, es war der Anästhesist. Der Doktor P. hat mich verbunden. Jetzt ist er nicht mehr hier. Seit gestern kommt ein anderer. Er hat mir noch nicht gesagt, wie er heißt. Wer die Röntgenbilder anschaut, weiß ich nicht. Einer hat noch meine Augen untersucht. Er sagte mir nicht, was er gefunden hat. Weil mein Gedächtnis zuerst so schlecht war, kam noch ein Psychologe. Ich weiß nicht, ob er Arzt ist. Er hat mir einen Fragebogen gegeben, den ich mit Kreuzen beantworten mußte. Ich weiß nicht, warum. Ich möchte, bis ich gesund bin, im Spital bleiben. Aber die Sozialarbeiterin macht mir Angst. Sie sagt, einen so alten Mann wie mich könne man nicht lange im Akutspital pflegen. Sie will mich forthaben. Ich wollte gerne mit einem Arzt darüber sprechen, aber ich weiß nicht, mit welchem...”

Diese Situation hat der Schweizer Psychiater Manfred Bleuler berichtet, und das Zitat findet sich in einem Aufsatz des Freiburger Medizinhistorikers Prof. Eduard Seidler, mit dem Titel „Was ist ein Arzt?”

Formal gesehen findet Prof. Seidler eine gegenwärtig gültige Antwort; indem er sich nämlich auf die Brüsseler EG-Bemühungen um die internationale Vergleichbarkeit der ärztlichen Ausbildung beruft: „... dieses Etwas wäre das Ergebnis von sechs Jahren oder 5.500 Stunden programmierter Unterweisung.

In einer arabischen Prüfungsordnung des 9. Jahrhunderts heißt es: „Wer im Examen behauptet, die ganze Medizin zu beherrschen, der ist so dumm, daß er nicht weitergeprüft zu werden braucht.”

Mit der Rückenstärkung des in der Aufklärung wurzelnden Rationalismus, mit einem fast ungehemmten Fortschrittsglauben und einer betonten Geschichtslo-sigkeit hat man seit Beginn des 19. Jahrhunderts versucht, alles das, was die Heilkunst bis dahin ausgemacht hatte, in seiner Bedeutung für die Medizin zu reduzieren: den Begriff der ,.Kunst”, der sich immer dem rationalen Zugriff entzieht und nicht objektivierbar zu machen ist, und damit auch alles, was auch nur entfernt an Magie erinnerte.

Kennzeichnend für diese Einstellung ist ein Zitat des Mediziners Dietl aus dem Jahr 1845: „Wenn wir einmal die Therapie auf exakte Wissenschaften gegründet haben, dann gibt es keine Kunst, keine Künstler, kein Individualisieren, keine Mystik, keine Großtuerei, keine Skandale am Krankenbett, keine Beeinträchtigung der ärztlichen Würde mehr, sondern es gibt nur eine medizinische Wissenschaft, die überall dieselbe und jedem zugänglich ist, der denken kann und seine Denkkraft zum Wohle seiner Nebenmenschen verwenden will.”

Diese gutgemeinte Monokultur bedingt heute jenes weitverbreitete Unbehagen an der Medizin, das gegenwärtig einen grundlegenden Wandel in der Auffassung der Heilkunde ankündigt.

Monokulturen haben es an sich — sie sind überhaupt nur dadurch gründbar -, daß differenziertes Wachstum ausgerottet wird; alles was nicht ins Bild des Einheitsfeldes paßt, muß ausgerissen, weggespritzt, am Wachsen gehindert werden, um einige Ausdrücke aus der Landwirtschaft zu verwenden, in der es parallele Entwicklungen gibt.

Es ist heuer genau 20 Jahre her. daß der Historiker Thomas S. Kuhn sein Buch über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” veröffentlichte - ein Werk, das sofort heftig diskutiert wurde und auf Widerstand stieß; kein Wunder, wird doch darin postuliert, daß jede Erkenntnis nur bedingt wahr ist - sie ist immer nur richtig innerhalb des Paradigmas, in dem sie entwickelt worden ist.

Albert Einstein hatte dieselbe Erkenntnis schon früher ausgedrückt, als er sagte: „Unsere Theorie bestimmt, was wir sehen.”

Im Rahmen unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes haben wir — und die Medizin bildet hier überhaupt keine Ausnahme, im Gegenteil, in ihr kommt wie in einem Brennglas vieles besonders deutlich zum Ausdruck — alles was nicht einzufügen war in dieses Bild als „unwissenschaftlich” abgetan.

Da aber der Mensch in seiner Gesamtheit (Ratio, ist gleich Verstand, aber eben auch: Gefühl) unwissenschaftlich ist, muß eine rein naturwissenschaftliche Sicht der Welt unmenschlich sein oder werden: genau der Vorwurf, der die moderne Medizin heute trifft

Mit den magischen Aspekten der Heilkunde hat man unendlich viel an uraltem Wissen über die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche verdrängt und teilweise auch schon zerstört. Erst in letzter Zeit mehren sich die Bemühungen, die Reste dieser alten Systeme zu sichten und zu retten.

Hierher gehören nicht nur die Versuche, das Wissen der Klostermedizin mit ihrer Kräuterheilkunde neu zu verstehen — hier gehören ebenso die vielfältigen Versuche her, als „alternativ” bezeichnete Heilmethoden in unsere Schulmedizin zu integrieren: Akupunktur, Homöopathie, Neu-raltherapie, Biochemie nach Schüßler, die Hildegard-Medizin (nach den Rezepten der Mystikerin Hildegard von Bingen, 12. Jh.), anthroposophisch orientierte Methoden, Ayurveda-Medizin (indische Heilverfahren nach den Ve-den, also den heiligen Schriften der alten Inder), um nur die geläufigsten Beispiele zu nennen.

Zwei mögliche Irrwege ergeben sich allerdings auch hier bereits: „Die Bezeichnung dieser Methoden als .alternativ' ist meiner Ansicht nach falsch”, meint Prof. Seidler, „man müßte viel eher über das Wiedergewinnen von Verlorenem sprechen.” Das Attribut „alternativ” stellt eine Integration in die geltende Schulmedizin in Frage.

Anderseits ist gerade diese Integration eine für fremdartige Heilsysteme (wie etwa die Akupunktur) möglicherweise tödliche Gefahr. Gerade das Beispiel der chinesischen Nadelmethode zeigt deutlich, wie man zwar Bausteine eines Gebäudes zum Einbau in die Erweiterung des eigenen verwenden kann (als „Spoli-en”, wie sie in der Archäologie allgemein bekannt sind), daß dieses Bauwerk dabei aber unweigerlich kaputt gehen muß.

Es ist eine „imperiale Haltung” gegenüber fremden Strukturen, wie es Prof. Seidler nennt: das brauchbar Scheinende wird herausgenommen und verwendet, der Rest als „unwissenschaftlich” und „Einbildung” weggeworfen.

Der Grund: man möchte „klare Verhältnisse, Reproduzierbarkeit” — und zwar im Dienst der Ideologie, daß man Krankheiten „bekämpfen” soll. Kritiker dieser Einstellung, die die Sprache beim Wort zu nehmen verstehen, meinen, daß man einem Kranken „seine Krankheit” vielleicht wegnehmen kann, ihn damit aber der Möglichkeit beraubt, an ihrer Uberwindung zu reifen, seelisch und organisch zu wachsen.

Freilich wird die Zauberei der modernen Medizin („eine Pille, und es geht einem besser”) auch vom Patienten selbst gefordert — hier hat ein tiefgreifender Wandel im Krankheitsverständnis stattgefunden, und zwar seit rund 100 Jahren: seit man sich gegen das Krankwerden versichern kann, glaubt man (oft vielleicht auch unbewußt), einen Anspruch aufs Gesundsein zu haben.

Daß die Ärzte zwischen die Mühlsteine dieser Erwartungshaltung und des unübersehbar gewordenen Berges an wissenschaftlichen Fakten geraten, macht einen weiteren Aspekt der heutigen Misere der Medizin aus.

Ob integriert in die Schulmedizin oder nicht: Heilsysteme, die nicht auf naturwissenschaftlichen Voraussetzungen aufbauen (die sehr wohl aber wissenschaftlich-empirisch sein können) bieten eine echte Alternative zur heutigen Situation der zunehmenden Unmenschlichkeit und der steigenden Kosten.

Wider den Methodenzwang hat (lange vor Paul Feyerabend) schon Paracelsus plädiert, wenn er sagte: „Also, ihr Ärzte, was ist uns nütze der Nam, der Titel, die hohe Schul, so wir nicht die Kunst auch haben? Die Kunst machet den Arzt, nicht der Name noch die Schul. Was ist uns nütz, daß wir großes Ansehen und großen Pomp führen, so wir die Kunst nicht können?”

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