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Altertumsforschung im Alleingang

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Generationen von Mittelschülern bewunderten Schliemann, der Homer beim Wort nahm und, lediglich gestützt auf die Angaben der Ilias, das legendäre Troja fand und ausgrub. Trotzdem verging ein weiteres Jahrhundert, ehe sich jemand fand, der auch die Odyssee ernst nahm und im Vertrauen auf die Genauigkeit ihrer Angaben der Frage nachging, wo sich Odysseus, der listenreiche Seefahrer, in den zehn Jahren seiner Abwesenheit von Ithaka tatsächlich herumgetrieben haben könnte. Wieder einmal gelangte ein beharrlicher Außenseiter zu äußerst erstaunlichen Ergebnissen.

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Generationen von Mittelschülern bewunderten Schliemann, der Homer beim Wort nahm und, lediglich gestützt auf die Angaben der Ilias, das legendäre Troja fand und ausgrub. Trotzdem verging ein weiteres Jahrhundert, ehe sich jemand fand, der auch die Odyssee ernst nahm und im Vertrauen auf die Genauigkeit ihrer Angaben der Frage nachging, wo sich Odysseus, der listenreiche Seefahrer, in den zehn Jahren seiner Abwesenheit von Ithaka tatsächlich herumgetrieben haben könnte. Wieder einmal gelangte ein beharrlicher Außenseiter zu äußerst erstaunlichen Ergebnissen.

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Richter sind keineswegs immer gute Kriminalisten. Dem Berliner Kam- mergerichts-Vorsitzenden Hans Steuerwald aber würde ich mich, käme ich durch eine unglückliche Verkettung irreführender Indizien in falschen Verdacht, vertrauensvoll ausliefern. Denn er hat in seinem Buch „Weit war sein Weg nach Ithaka” einen seit weit über zweitausend Jahren von den erlauchtesten Geistern vieler Epochen der Aufschneiderei angeklagten Berichterstatter glanzvoll rehabilitiert.

Die Personalien des Angeklagten sind äußerst dubios. Man weiß nicht einmal, ob Odysseus wirklich gelebt hat, geschweige denn in welchem Jahrhundert. Seine Identität als König von Ithaka, Sohn Laertes’, Gemahl der ob ihrer Treue hervorragend beleumundeten Penelope und Vater des braven Telemach, ist sowenig verifi- zierbar wie seine Heldentaten im Trojanischen Krieg.

Der Mitangeklagte heißt Homer. Möglicherweise ist Odysseus überhaupt nur ein Schemen und Homer allein hat die Last der Anklage zu tragen. Denn er gab bekanntlich dem Bericht des Odysseus die dichterische Form, in der er der Nachwelt erhalten blieb» und niemand weiß, welcher Art und woher das überliefert^ Material war, das Homer gestaltete, wenn die Odyssee nicht überhaupt ganz seiner Phantasie entsprang.

So oder so - die Odyssee polarisiert seit über zwei Jahrtausenden die Meinungen. Seit der Antike werden drei Ansichten vertreten:

• Homer hat die Odyssee erfunden.

• Die Odyssee basiert auf einem Bericht (oder Berichten) über Reisen im Mittelmeer. Da sich hier aber keine Plätze finden, die den phantastisch klingenden Berichten der Odyssee entsprechen, anderseits aber seit der Antike die meisten Autoren annehmen, Odysseus (oder Homer, falls er eigene Reisen beschrieb) habe das Mittelmeer nicht verlassen, kam der Berichterstatter zu seinem zweifelhaften Ruf.

• Eine Minderheit von Autoren der Antike und vor allem der Neuzeit nimmt an, die Schauplätze der Odyssee seien außerhalb des Mittelmeeres zu suchen, im Atlantik, in Nordeuropa oder gar im Schwarzen Meer.

Hans Steuerwald, seit zwei Jahren im Ruhestand, ist wohl der Prototyp eines humanistisch gebüdeten Richters mit historischen Interessen. Er hatte auch schon zwei Bücher über lokalhistorische Themen geschrieben, als ihn vor fünf Jahren die äußerst negative Rezension eines Werkes mit dem Titel „Der Weg des Odysseus” veranlaßte, einen Urlaub der eventuellen Ehrenrettung der beiden Autoren zu widmen, die versucht hatten, zu beweisen, daß die Odyssee tatsächlich innerhalb des Mittelmeeres stattgefunden hat. Die Ehrenrettung fiel ins Wasser, der deutsche Richter kam an Ort und Stelle zu der Überzeugung, daß die „Schauplätze” offenkundig falsch und die Verrisse gerechtfertigt waren.

Seine Reaktion auf diese Enttäuschung beschrieb er mir in einem Gespräch mit einem Satz, der Hans Steuerwald als Überlebenden der äußerst liebenswerten, leider aussterbenden Spezies des Bildungsbürgers kennzeichnet: „Da habe ich eben meinen Homer Wort für Wort wieder gelesen!”

Und er beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen, indem er seinen Homer nicht nur Wort für Wort studierte, sondern auch Wort für Wort beim Wort nahm. Seine Methode ist die Schlie- manns: Auf der Suche nach den Schauplätzen wird keine topographische oder nautische Angabe Homers beiseitegeschoben, Steuerwald sucht Plätze, die in jedem Detail der Odyssee entsprechen und deren Lage auch keinesfalls im Widerspruch zu den von Homer angegebenen Fahrtrichtungen und -zeiten stehen darf. Das Erstaunliche gelingt. Hans Steuerwald findet zu allen Stationen der Odyssee den Schilderungen Homers geradezu frappant entsprechende Orte. Und er findet sie, ohne sein Haus zu verlassen, im Lauf eines Jahre dauernden Studiums von Kartenwerken, geographischen und nautischen Nachschlagewerken und Reiseliteratur. Andere begeben sich an die so eingekreisten Orte, machen Photos, registrieren die Übereinstimmungen. Der Autor selbst hat die Reise des Odysseus bis heute nur zum Teil nachvollzogen…

Nur zwei Stationen der Odyssee lokalisiert er im Mittelmeer: Das Land der Lotophagen, der Lotosesser, in der Kleinen Syrte und die Höhle des Poly- phem unweit der Bucht von Tafna auf halbem Weg von der Grenze zwischen Marokko und Algerien zur Stadt Oran. Auf welchen Wegen und in welcher Zeit Odysseus sodann zur Insel des „Gebieters der Winde”, Aiolos, gelangte, hat Homer leider nicht beschrieben. Doch gibt es weder im Mittelmeer noch im Schwarzen Meer ein Eiland, das Homers Beschreibung gleicht: Eine „schwimmende Insel” von so großer Fruchtbarkeit, daß ihr Herrscher ohne Schwierigkeit die Besatzungen von zwölf griechischen „Fünfzigruderern” einen Monat bewirten kann, „ganz um sie herum ist eine Mauer, eine eherne, unzerbrechliche, und sprillgt glatt der Fels auf.

Steuerwald identifiziert Madeira als Insel des Aiolos. Ihre Felswände gleichen tatsächlich einer ehernen, unzerbrechlichen Mauer, sie ist groß und fruchtbar, der Rückweg nach Ithaka läßt sich Steuerwalds detaillierten Berechnungen zufolge bei günstigem Wind in der angegebenen Zeit mit einem schnellen Schiff bronzezeitlicher Bauart (und Odysseus rühmt ja die Tüchtigkeit seiner Schiffe!) zurücklegen, und die Beschreibung als „schwimmende Insel” läßt sich zwanglos mit der gewaltigen Tiefe des Atlantik in unmittelbarster Nachbarschaft der Küste erklären: Die Tatsache, daß das Lot gleich neben den auf Tiefen von mehreren tausend Metern abfallenden Felsen keinen Grund fand, konnte nach damaligem Wissen in diesem Sinn gedeutet werden.

Steuerwald fand in seinem Puzzlespiel zu jeder Station der Odyssee den passenden Stein:

• So hätten die menschenfressenden Laistrygonen, die mit Steinen elf der zwölf Schiffe des Griechenkönigs zerstörten, dort gelebt, wo heute Vila Nova de Gaia, eine Vorstadt von Oporto, steht. Tatsächlich ist die Einfahrt in den Hafen so schmal, daß die angegriffenen Ruderschiffe nicht hätten wenden können, die hohen Felsen sind vorhanden, Ebbe und Flut sind im Hafeninneren auch heute noch kaum spürbar, und die wichtigsten von Homer geschilderten Merkmale des Weges vom Hafen in die Stadt sind auch npch immer erkennbar. Unterhalb der Stadt, dort, wo sich die von Homer erwähnte Quelle befinden müßte, gibt es einen uralten Brunnen …

• Die Überlebenden erreichen total entkräftet die Insel der Zauberin Kirke, wo sie ein Jahr bleiben. Sie liegt einsam im Weltmeer, offenbar hoch im Norden, weil die Reisenden nicht mehr erkennen, „wo Helios, der den Sterblichen scheint, unter die Erde geht und wo er wieder heraufkommt”, und weil später, bei der Schilderung des langen Rückweges, nur noch Südkurse gesteuert werden. Steuerwald identifiziert nicht nur das auf halbem Weg zwischen Orkneys und Shetlands gelegene Fair Isle als Insel der Kirke, auch der von Homer erwähnte Sandstrand, eine Höhle wie jene, in welche die Griechen ihre Habseligkeiten schafften, und der von Odysseus er klommene „schroffe Ausguck” sind noch vorhanden - nebst vielen anderen in der Odyssee erwähnten Details!

• Odysseus’ Gang zur Pforte des Hades hätte dann dort stattgefunden, wo noch heute, an der nordschottischen Küste, Touristen die Teufelshöhle von Smoo bestaunen. Es wäre reizvoll, sie mit der Odyssee statt eines modernen Reiseführers in der Hand zu besichtigen …

• Höhepunkt der Reise ist die Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis, Höhepunkt der Rekonstruktion der Vergleich der homerischen Schilderung mit den tatsächlich mörderischen Strömungsverhältnissen in der Meerenge von Skye: Sie stimmen genau überein, und der Rat der Kirke, die Enge nicht bei Flut zu passieren und sich bei der Durchfahrt nahe am Felsen der Skylla zu halten,.ist auch heute noch richtig! Und selbst den schwarzen Sand am Grund des Strudels erwähnt Homer!

• Die Insel der Sirenen war, so der Autor, eine Toteninsel, wo die Leichen der Verstorbenen unter freiem Himmel zur Verwesung ausgesetzt wurden (was- mit archäologischen Befunden übereinstimmt).

• Als homerisches Thrinakia ortet Steuerwald die Insel Muck, deren halbwilde Rinder sich die wichtigsten rassichen Merkmale der in der Odys see erwähnten „heiligen Rinder” erhalten haben.

• Kalypso, die freundliche Nymphe, deren Liebe Odysseus nach dem Untergang seiner letzten Gefährten sieben Jahre festhielt, lebte auf der Insel Man, diese hat auch noch immer die erwähnten vier Quellen „in der Reihe nahe beieinander”, die nach verschiedenen Seiten abfließen, und Kalypso war vermutlich eine Priesterin der (mutterrechtlich organisierten) Megalith-Kultur.

• Die Irrfahrt des Odysseus endet, nachdem Kalypso ihm beim Bau eines Floßes geholfen hat, am Strande der Phäaken, des heutigen Cornwall, wo er sich anscheinend schon sehr viel weniger fremd fühlt. Das ist kein Wunder, West-Cornwall war (und ist) nicht nur, dank dem Golfstrom, äußerst fruchtbar, sondern auch einer der wichtigsten Zinnfundorte der Antike. Und die notorische Geheimhaltung der Zinnhandelswege in der Antike könnte, meint Steuerwald, auch der Grund dafür gewesen sein, daß der Phäakenkö- nig Alkinoos den schiffbrüchigen Griechenkönig zwar freundlich aufnahm und reich beschenkte, aber offenbar narkotisiert auf einem seiner Schiffe nach Ithaka zurückbringen ließ.

Ein aufregendes Buch also, das nicht nur alte Rätsel, die jeden Homer-Lesenden beschäftigt haben, auf eine überraschend überzeugende und elegante Weise löst, sondern auch verwirrende neue Fragestellungen ahnen läßt.

Denn einerseits enthält ja die Odyssee auch eine Fülle von Informationen über die Menschen, denen Odysseus oder Homer begegnete, und die nun in einem anderen Licht gesehen werden müssen.-Wenn sich die Odyssee als in topographischen Dingen beim Wort zu nehmender Bericht erweist, läge hier plötzlich sozusagen eine ausführliche schriftliche Reportage über jene geheimnisvollen Kulturen vor, die Europa mit ihren seltsamen, gewaltigen Steinsetzungen überzogen und über die wir so wenig wissen.

Anderseits aber kann heute niemand sagen, welche Elemente der Odyssee nun welcher Epoche entstammen. Für einen Flunkerer wird niemand, der Steuerwald gelesen hat, Homer länger halten können. Steuerwald hat auch eine sehr einleuchtende Erklärung dafür, daß Homer bereits im Altertum für einen Flunkerer gehalten wurde: Nach der Seeschlacht von Alalia im Jahr 535 vor Christus, die mit der Niederlage der Griechen endete, wurden diese aus dem westlichen Mittelmeer verdrängt, und nach 530 vor Christus konnten Schiffe, die nicht in phönizischem Auftrag fuhren, Gibraltar nicht mehr passieren. Von den Puniern listig ausgestreute Schauergeschichten über die grausigen Verhältnisse im’^ Ajtlaijlik trugen c(azu bei, daß sich Her Blickwinkel der Griechen auf das östliche Mittelmeer einengte: Der um 518 vor Christus geborene Pindar hält die Welt jenseits der Säulen des Herkules bereits für „unzugänglich für Weise wie für Toren”, Herodot glaubt nicht einmal mehr an die Existenz des nördlichen Ozeans und der Zinninseln, Aristoteles berichtet, der Ozean sei infolge von Untiefen, Verschlammung, Stürmen und Ungeheuern unbefahrbar. Mit der aus freieren Zeiten stammenden Odyssee wußte daher niemand mehr etwas anzufangen, und Griechenlands verengter Blickwinkel wirkte weit über die Antike hinaus.

Zwei Jahrtausende später erweisen sich Homers Berichte als so genau, daß Steuerwald meint, Homer habe die von ihm geschilderten Gebiete so gut wie sicher selbst bereist. Das schließt aber die alte Ansicht, Homer habe viel älteres Material gestaltet, keineswegs aus. Gerade die mündlichen Überlieferungen, auf die sich Homer stützte, könnten ihn bewogen haben, ihre Schauplätze aufzusuchen. Die Odyssee wäre dann, zu allem, was sie sonst noch ist, Dokument frühester Bemühung um historische Objektivität und dokumentarische Authentizität. Aber, wenn wir dies annehmen wollen: War Homer wirklich dort, wo Odysseus war?

Dichtung und Wahrheit also? Die Mischung eines authentischen Reiseberichtes aus dem achten oder neunten vorchristlichen Jahrhundert mit viel älterer, mündlich (aber: wie getreu?) überlieferter historischer Information? Kann man Homer auch dort beim Wort nehmen, wo er es aus x-ter Hand hat? Anderseits hatte er die von Schliemann bestätigte Lokalisation Trojas ja auch aus x-ter Hand.

Wer den Alleingang eines deutschen Richters in die Vergangenheit ernst nimmt, sieht sich also völlig neuen Problemstellungen konfrontiert.

WEIT WAR SEIN WEG NACH ITHAKA - Neue Forschungsergebnisse beweisen: Odysseus kam bis nach Schottland. Von Hans Steuerwald. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1978. 248 Seiten, Abbildungen, Karten, öS 215,60.

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