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Am 26. September: 75

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Paul VI. hat den Bischöfen nahegelegt, mit Vollendung ihres 75. Lebensjahres spontan ihren Rücktritt anzubieten; über Annahme oder Ablehnung dieses Angebotes entscheidet letztlich er allein. Paul VI. hat den Kardinälen, die das 80. Lebensjahr vollendet haben, das seit Jahrhunderten angestammte Recht der Teilnahme an der Papstwahl genommen; er allein befindet letztlich darüber, ob ein achtzigjähriger Purpurpensionär noch eine Funktion in der Leitung einer Teil- oder der Gesamtkirche ausüben darf. Paul VI. hat aber auch den Konzilsbeschluß über die kollegiale Ausübung der Kirchenleitung durch das Kollegium der Bischöfe unterschrieben. Warum gilt für ihn — den „Episcopus Episcopo-rum“ — nicht, was er seinen Mitbrüdern im Bischofsamt dekretiert hat?

Paul VI. vollendet am 26. September sein 75. Lebensjahr. Doch er bleibt weiterhin im Amt. Warum?

Als im Vatikan das Dokument vorbereitet wurde, das die Bischöfe auffordert, mit 75 Jahren in Pension zu gehen, hat Paul VI. sehr wohl auch seine eigene Position überdacht. Auf die Frontseite des entsprechenden Aktes schrieb er: „Und der Papst, was macht der? Muß auch er zurücktreten? Die Sache sorgfältig studieren unter theologischem, juridischem, geschichtlichem, praktischem Aspekt.“

Das dürfte im Herbst 1965 gewesen sein. Als der Akt mit der päpstlichen Anweisung ins Staatssekretariat gelangte, verschloß sie der Substitut zunächst in seinem Schreibtisch. Gegen 19 Uhr am gleichen Tag begab er sich dann, wie fast jeden Abend, zum Papst, um die Angelegenheit zu besprechen. Man kam überein, drei italienische Kleriker mit dem Studium der Frage zu betrauen: den Historiker Msgr. Mi-chele Maccarrone, den „Theologen des Päpstlichen Hauses“, den Dominikaner Luigi Ciappi, sowie den inzwischen verstorbenen Juristen Msgr. Giovanni Pinna.

Das Triumvirat legte nach einigen Monaten in einer streng vertraulichen Relation das Ergebnis seines Nachdenkens vor: Theoretisch kann der Papst ohne weiteres zurücktreten, doch stellen sich einem solchen Schritt nicht geringe praktische Probleme entgegen. Hier die wesentliehen, wie sie von dem Dreierrat gesehen wurden:

• Der Rücktritt eines Papstes ist in heutiger Zeit nicht ratsam, weil er letztlich den Gegnern der sehr angefochtenen päpstlichen Autorität nützt; denn der Papst würde sich damit auf die gleiche Ebene mit jedwedem Bischof stellen, dessen Rücktrittsangebot vom Papst immer noch zurückgewiesen werden kann, während der Papst selbst sich an keine höhere Instanz wenden kann und durch seinen Rücktritt irgendwie auch seine Nachfolger zum gleichen Akt verpflichtet.

• Dem Nachfolger eines aus Altersgründen zurückgetretenen Papstes könnten eigentlich die Hände gebunden sein. Er hätte zwar das Recht, aber wohl nicht die moralische Freiheit, Anordnungen seines noch lebenden Vorgängers zu ändern. Dieses Dilemma läßt sich gerade heute an einem bezeichnenden Beispiel verdeutlichen: Das Motu proprio Pauls VI. „Ingravescentem aetatem“, das den über 80jährigen Kardinälen das Recht der Papstwahl nimmt, hat nicht nur Purpurgreise, wie den inzwischen verstorbenen Kardinaldekan Tisserant, verärgert, sondern auch erheblich jüngere Mitglieder des Heiligen Kollegiums. So ist die Hypothese erlaubt, daß das Konklave, das den Nachfolger Pauls VI. zu wählen hat, dem „neuen“ Papst die Bedingung stellt, das Montini-Gesetz über die purpurne Altersgrenze abzuschaffen. Könnte der Neugewählte dem aus Altersgründen zurückgetretenen Vorgänger das antun?

• Ein zurückgetretener Papst ist heute nicht mehr „aus der Welt zu schaffen“. Bei Zölestin V., der vier Monate nach seiner Wahl, am 13. Dezember 1294, den Stuhl Petri verließ, lagen die Dinge weit einfacher. Er brauchte sich nur ein paar Dutzend Kilometer von Rom zu entfernen — und war außerhalb der

Welt. Ein pensionierter Papst der heutigen Zeit könnte sich höchstens in ein Trappistenkloster zurückziehen, das dann doch Ziel von Pilgern und Touristen wäre. Mit der Konsequenz, daß ein „zweites Rom“ entstünde, das die Anhänger des „alten“ und die des „neuen“ Papstes entzweit und polarisiert.

Ob mit diesem negativen Dreiergutachten das Thema für Paul VI. persönlich erledigt war, steht dahin. Für die Öffentlichkeit anderseits fing es erst an, interessant zu werden. Aufhänger diesbezüglicher Pressespekulationen war der Besuch Pauls VI. auf dem Monte Fumone am 1. September 1966, wo Zölestin V. nach seinem Rücktritt gelebt hat.

Im Herbst des folgenden Jahres erhielten die Rücktrittsspekulationen neue Nahrung und zugleich einen neuen Aspekt. Aus Anlaß der Operation des Papstes wurde verschiedentlich die Frage aufgeworfen, was Paul VI. tun würde, wenn er aus Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage wäre, sein Amt voll auszuüben. Die einstimmige Anwort von Montini-Kennern war: Er würde zurücktreten. Sein Neffe, Giorgio Mon-tini, hat sich erst vor ein paar Monaten in einem Interview mit Radio Luxemburg im gleichen präzisen Sinn geäußert.

Wie ein Rücktritt aus Gesundheitsgründen seinem tiefen Sinn für Verantwortung entspräche, so entspricht diesem Verantwortungsbewußtsein sein Verbleiben im Amt angesichts des Schwindens seiner Autorität seit „Humanae vitae“ und der sonstigen zahllosen Schwierigkeiten im heutigen Leben der Kirche. Über die im Dreiergutachten aufgeführten Gründe hinaus dürfte gerade dieser eine Punkt gegen mehr oder minder starke Rücktrittsabsichten zu Buche schlagen: Paul VI. verläßt das Schifflein Petri nicht mitten im Sturm.

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