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Am Altar der Tagespolitik

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Die Vorgänge in der Paritätischen Lohn- und Preiskommission am vergangenen Mittwoch haben gezeigt, wie nervös sowohl Regierung als auch Vertreter der Opposition durch den ständig steigenden Preisauftrieb geworden zu sein scheinen.

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Die Vorgänge in der Paritätischen Lohn- und Preiskommission am vergangenen Mittwoch haben gezeigt, wie nervös sowohl Regierung als auch Vertreter der Opposition durch den ständig steigenden Preisauftrieb geworden zu sein scheinen.

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Dieser Nervosität ist es wohl auch zuzuschreiben, daß Bundeskanzler Dr. Kreisky die Personalunion von ÖVP-Abgeordneten und Unternehmervertretern auch zu einer Handlungseinheit werden ließ: Er lasse sich nicht von den Leuten, die ständig Preisanträge einbringen, auf der anderen Seite vorwerfen, er tue nichts gegen den Preisauftrieb, erklärte der Kanzler.

Bundeswirtschaftskammer und die Vertreter der Landwirtschaft reagierten auf diesen Vorstoß des Kanzlers, der noch dazu den Zuckerpreis betrifft, also einen Preis, der nicht in die Kompetenz der Paritätischen Kommission fällt, mit dem Wunsch nach Vertagung. Scharfe Stellungnahmen beider Seiten eskalierten die fast zwei Jahre ruhig gewesene Stimmung in Österreichs Innenpolitik weiter und zeigten das Dilemma, in dem sich die Regierung Kreisky II gegenwärtig befindet, in aller Deutlichkeit:

• Der Preisanstieg zwischen Februar 1971 und Februar 1972 lag mit 5,7 Prozent ungewöhnlich hoch, aber diese Marke wird voraussichtlich in den nächsten Monaten wieder erreicht werden.

• Für das nächste Jahr prophezeit die Arbeiterkammer sechs und mehr Prozent, und der Präsident des ÖGB (und SP-Abgeordnete) Anton Benya scheute sich nicht mehr, acht Prozent als mögliche Preissteigerungsrate im kommenden Jahr auszusprechen.

• Dazu kommt noch die Tatsache, daß die nahezu zwei Jahre lang hilflos scheinende große Oppositionspartei zu erwachen scheint. Der Preisauftrieb ist also zur unleugbaren Tatsache geworden — keinesfalls ist es Preishysterie, wenn Massenmedien und Oppositionsparteien der Regierung die Frage stellen, ob sie auch tatsächlich alles gegen den Preisauftrieb unternommen hat.

Der Oppositionsführer Dr. Bruno Kreisky hat schließlich dem Bundeskanzler der ÖVP-Alleinregierung Dr. Klaus auch den seiner Meinung nach allzu großen Preisauftrieb vorgeworfen. Es ist richtig, wenn die Bundesregierung sagt, daß ein Teil des Preisauftriebes importiert wird, aber es scheint ebenso logisch, wenn man die Frage stellt, was die Bundesregierung gegen die österreichischen Einflüsse auf den Preisantrieb gemacht hat.

Tarifinflation

Auch der Vorwurf an die Regierung, gerade die Erhöhung der Tarife, wie zum Beispiel jener der Bundesbahn, trage zur Preiserhöhung bei, scheint berechtigt. Daß an dieser Erhöhung nicht nur diese Regierung schuld ist, sondern die in Österreich geübte Praxis, unangenehme Preiserhöhungen möglichst lange hinauszuschieben, steht auf einem anderen Blatt. Aber es ist klar, daß die Erhöhung der Benzinpreise, des Strompreises (der erst mit 1. Juli erhöht wird), der Bahntarife, der Straßenbahntarife, der Haftpflichtversicherungen und vieles andere auf die Kalkulationen und damit die Preisgestaltung der Unternehmer auch einen entscheidenden Einfluß haben, zumeist einen, der schwerer wiegt als die vom Ausland importierte Inflation.

Die Nervosität Dr. Kreiskys, dem in den letzten beiden Jahren fast alles zu glücken schien, ist verständlich; denn auch Bundeskanzler Klaus hatte seine Rechnung, Tariferhöhungen in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit vorzunehmen, und zu hoffen, daß dies bis zum Wahltermin vergessen werde, ohne den Wähler gemacht. Wenn auch Kreisky erst am Beginn einer vierjährigen Amtsperiode steht, so muß er doch um die Stabilität besorgt sein. Denn sollte die Mehrwertsteuer mit 1. Jänner des kommenden Jahres tatsächlich eingeführt werden, so wird dies zu Preissteigerungen führen, deren Auswirkungen auf den Lohnsektor noch nicht abgesehen werden können. Ob aber dann die Lohn-Preis-Spirale rechtzeitig vor den Wahlen wieder gestoppt werden kann, ist keinesfalls sicher.

Gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem die Konjunktur sich einer Talsohle nähert und die Preise stärker als am Gipfel der Konjunktur steigen, scheint es doppelt gefährlich, die Sozialpartnerschaft zu gefährden. Wenn auch die Doppelfunktionen mancher Interessenvertreter (die gleichzeitig Funktionäre politischer Parteien sind), keineswegs eine glückliche Lösung sind, müßte man doch versuchen, diese Tätigkeiten auseinanderzuhalten. Man sollte die in den letzten Jahren so oft zitierte soziale und wirtschaftspolitische Einsicht aller Österreicher nicht am Altar der Tagespolitik opfern, Österreich könnte sich das nämlich kaum leisten.

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