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Am Beispiel von Frau N.

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Das soziale Netz ist brüchig geworden. Allein die Stadt Wien mußte die Sozialausgaben für das kommende Budgetjahr um 19,6 Prozent höher ansetzen als 1984. Der Sozialaufwand steigt von 2,877 Milliarden Schilling im Jahr 1984 auf 3,441 Müliarden Schilling im Jahr 1985 an. Der Hauptbrok-ken der Erhöhung fällt auf die Budgetpost „Mittel zur Sicherung des unmittelbaren Lebensbedarfes".

Dennoch ist das soziale Netz oft nicht mehr in der Lage, alle Probleme zu lösen. Denn immer mehr alleinerziehende und alleinverdienende Elternteile geraten unweigerlich in einen Teufelskreis, wie das folgende Beispiel zeigt.

In der Wiener Stadtrandsiedlung Rennbahnweg wohnt die 35jährige Gemeindebedienstete Erika N. mit ihren beiden Kindern im Alter von 12 und 13 Jahren. Der Vater ist ausgezogen, er hat die Familie verlassen.

Für die 82 Quadratmeter große Wohnung am Rennbahnweg beläuft sich die monatliche Miete auf rund 3.000 Schilling, inklusive Betriebskosten, aber ohne Beheizung und Beleuchtung. Das Nettoeinkommen von Frau N. liegt einschließlich Familienbeihilfe bei knapp 10.000 Schilling monatlich. Dazu kommen noch die Alimente bzw. der Unterhaltsvorschuß. Ersparnisse sind nicht vorhanden.

Für Frau N. beginnen die Probleme, als der monatliche Unterhaltsvorschuß vorübergehend eingestellt wird, weil der unterhaltspflichtige Vater Sozialhilfeempfänger geworden ist

Knapp nach der Einstellung des Unterhaltsvorschusses wollen die Kinder auf einen Schulskikurs gehen.

Da keine Ersparnisse vorhanden sind, tappt Frau N. ganz bewußt in die erste Falle. Sie nimmt „freiwillig" das großzügige Angebot einer Bank an und überzieht ihr Konto. Sie glaubt, den ausständigen Betrag binnen kurzer Zeit wieder aufbringen zu können.

Dann passiert ein weiteres Malheur. Weil fast gleichzeitig Waschmaschine und Eiskasten den

Geist aufgeben, muß Ersatz beschafft werden. Keine Ersparnisse, keine Rücklagen. Was tun? Frau N. kauft die dringend benötigten Haushaltsgeräte per Scheck und Scheckkarte. Das Konto ist ohnehin schon überzogen, meint sie, und weil die Bank ja sehe, daß regelmäßig Eingänge auf das Konto fließen, werde das schon toleriert.

Das ist ein Irrtum. Die Bank, die für die Uberziehungskredite weit mehr Zinsen berechnet als für Großkredite, und mit den Kontoüberziehern an sich gute Geschäfte macht, sperrt das Konto. Nicht bösartig, nur um zu vermeiden, daß Frau N. noch tiefer in die roten Zahlen rutscht.

Mangels Deckung des Kontos wird nun die Miete an die städtische Wohnhäuserverwaltung nicht mehr überwiesen. Auch im nächsten Monat kann die Miete nicht beglichen werden.

Das hat nun fatale Folgen: Frau Erika N. bezog nämlich auf Grund ihrer sozialen Lage eine Wohnbeihilfe von monatlich rund 1.600 Schilling. Diese Wohnbeihilfe wird nicht mit der Wohnhäuserverwaltung direkt verrechnet. Die Stadt Wien überweist sie auf das Konto des Mieters. Der pädagogische Hintergrund: Der Wohnbei-hüfenempfänger soll wissen, wie hoch die Miete ist, und er soll auch wissen, wie hoch der Zuschuß ist.

Im Fall der Frau Erika N. tritt nun die Situation ein, daß mangels Mietzinszahlung auch die Wohnbeihilfe gestrichen wird.

Frau N. droht nun endgültig der finanzielle Absturz. Abgesehen davon, daß sie die normale Kontoüberziehung abdecken muß, muß sie nun auch auf die dringend benötigte Mietzinsunterstützung verzichten.

Nur durch ein befreundetes Ehepaar und eine kirchliche Institution kann die Situation für Frau Erika N. bereinigt werden.

Das Schicksal der Familie N. am Wiener Rennbahnweg ist kein Einzelfall. Das Sozialsystem ist oft so aufgebaut, daß die versteckte Armut von Amts wegen nicht erkannt werden kann.

Wiens Sozialstadtrat Alois Stacher ist schon öfter mit der Frage konfrontiert worden, ob die Sozialleistungen nicht häufig von „Sozialhyänen" ausgenutzt werden. Stacher dazu lakonisch: „Mir ist lieber, daß ein paar Mal eine Sozialleistung ausgenutzt wird, als daß einem einzigen, der unserer Hilfe dringend bedarf, nicht geholfen wird."

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