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AM DACHBODEN SPIELEN WIR DOKTOR!

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Bettina* war ein braves Kind. Folgsam und still. Sie war sehr schüchtern, aber es war nichts Außergewöhnliches an ihr. Nur in einer Hinsicht kannte sich niemand mit ihr aus, dann nämlich, wenn ihr Vater oder ihre Mutter sagten: „Du ziehst jetzt sofort deine Hosen aus und den Rock hier an. Mädchen sollen keine Hosen tragen." Dann weinte und wimmerte Bettina jedesmal und bettelte, die Hosen anlassen zu dürfen, der Schnee käme bald und es wäre so kalt. Auch im Sommer erkämpfte sie sich mit diesen Worten das Anlassen der Hosen. Sonst War Bettina ein stilles und unauffälliges Kind.

Bettina ist gerade sechs Jahre alt geworden. Sie lebt mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus außerhalb der großen Stadt. Sie hat einen fünfzehnjährigen Bruder. Eines Tages sagt er: „Komm, gehen wir rauf in den Dachboden, wir spielen Krankenhaus und ich bin der Doktor."

Voller Freude springt Bettina die Treppen hinauf und legt sich auf die alte Matratze, die jetzt das Krankenbett ist. Doch plötzlich spürt sie etwas Warmes und Glitschiges, das in ihren Mund gepreßt wird. Zwischen ihren Beinen tut es fürchterlich weh. Sie will schreien, doch da wird ihr ein Polster ins Gesicht gedrückt. „Wenn Du schreist, dann bring ich deinen Hasen um.".

Bettina wimmert in sich hinein und versucht sich steif zu machen. Ihr Bruder sagt: „Stell dich nicht so an, das tut ja eh nicht weh." Bettina spürt nichts mehr, sie stellt sich tot, ist wie betäubt. Sie schreckt erst hoch, als jemand an der Tür rüttelt und nach ihr ruft. Das ist die Oma, Gott sei Dank, die wird sehen, was der Bruder da macht und die wird ihr helfen. Warum hat die Oma keinen Schlüssel, warum geht sie wieder?

Die Oma wäre die einzige, die das da verstehen könnte. Aber was soll sie ihr nur sagen, sie weiß ja selber nicht, was wirklich geschehen ist, und wenn sie jemandem was sagt, dann bringt der Bruder den Hasen um. Das alles rast in ihrem Kopf herum, während sie ihren Faltenrock wieder ordentlich anzieht. Wenn ich eine ganz enge Hose angehabt hätte, denkt sich Bettina, dann hätte das alles gar nicht passieren können, dann geht das hier gar nicht - ich will jetzt immer ganz, ganz enge Hosen anziehen, nie mehr einen Rock, nie mehr...

Bettina bleibt ein stilles und braves Kind, mit Drohungen eingeschüchtert und ergeben in ihr Schicksal. Der regelmäßige Gang auf den Dachboden mit dem großen Bruder ist viele Jahre lang eine bedrohende Wirklichkeit im Leben von Bettina.

Im Religionsunterricht hört Bettina, daß allein schon der Gedanke an das Geschlechtliche eine Sünde sei. Bettina fühlt sich anders als ihre Mitschüler, irgendwie schuldig und schmutzig, einfach nichts wert. Sie muß immer wieder an die Dinge denken, die sie halbbetäubt vor Scham und Angst am Dachboden über sich ergehen läßt. Nach außen macht sie einen ganz normalen Eindruck, sie behält ihre Gefühle für sich, sie kann sich niemandem anvertrauen.

Mit fünfzehn Jahren verläßt sie ihr Elternhaus, besucht eine Berufsschule. Eines Abends nach einem Disco-Besuch, im Auto eines Schulkollegen, spürt sie wieder jenesOhnmachts-gefühl, als ihr eine grobe Hand den Mund zuhält. Bitte nicht, wimmert sie, und dann spürt sie nur noch dieses watteähnliche Gefühl, das sie gut kennt nach all den Jahren.

Geschieht mir eh recht, sagt sie sich, als sie wie benommen ihre Zimmertür im Heim aufsperrt, ich hätte keinen Rock anziehen dürfen. Ist ja auch nicht so wichtig, wenn so einer wie mir das passiert. Wenn ich zur Polizei gehe, glauben die kein Wort, und dann wissen es alle. Sie holt sich ihre Flasche Gin und einige Schmerztabletten und sinkt ins Bett.

Bettina ist inzwischen 25, hat ihre Berufsschule beendet. „Sie hat wirklich überhaupt keine Männergeschichten", sagt ihre Mutter stolz zu ihrer Nachbarin. Das stimmt auch. Bettina hat sich noch nie verliebt, hatte noch niemals aus freier Entscheidung liebevolle sexuelle Gefühle für einen Mann.

Nachts wacht sie oft schweißgebadet auf, hat Angstträume und muß, wenn ihr Szenen vom Dachboden auch nur vage ins Gedächtnis kommen, immer wieder anfallsartig erbrechen. Wenn sie sich gar nicht mehr zu helfen weiß, greift sie zu Alkohol, den sie mit Tabletten kombiniert. Eines Tages vertraut sie ihr Geheimnis ihrer einzigen Freundin an, die zufällig eine Beratungsstelle für Frauen kennt, die sexuell mißbraucht wurden. Bettina hat am Telefon eine leise Stimme, spricht so, als würde sie jeden Moment wieder auflegen wollen. Sie fragt, ob es hier Beratungen gäbe. Sie fragt nicht, wann. Sie sagt, sie melde sich wieder.

Eine Woche später vereinbart sie wirklich einen ersten Gesprächstermin. Sie hält während der ganzen ersten Beratung ihre Hände verkrampft auf ihrem Schoß und erzählt stockend und um Worte ringend von dem Bild vom Dachboden, das sie in den letzten Tagen fast Tag und Nacht verfolgte. Bettina spricht mit der Stimme des sechsjährigen Mädchens, das versteckt und ungeliebt in ihr lebt und das nicht vergessen kann. Irgendwann, bei einer der nächsten Sitzungen, wird sie es dann in die Arme nehmen können und sich versöhnen mit dem kleinen Kind in ihr, das nicht wußte, was mit ihm geschah. Nach manchen Beratungen geht

Bettina sehr erleichtert weg, wie von einer schweren Last befreit. Dann wieder kommt sie durch die Gespräche mit ihrer Beraterin in Kontakt mit Gefühlen, die sie ängstigen und belasten, doch sie lernt auch mit diesen, ihren Tiefs zurechtzukommen und gerade dann besonders achtsam und i liebevoll mit sich umzugehen. Bettina hatte viel Mut, sich mit dem Schmerz in sich selber zu konfrontieren und sich ihrer Beraterin anzuvertrauen. Und nach und nach kann sie

über das, was geschehen ist, ohne Scham sprechen und kann sich erstmals vorstellen, eine eigene Familie aufzubauen.

Mißbrauch gibt es auf viele verschiedene Arten. Am häufigsten sind Mädchen betroffen, und zu einem großen Prozentsatz handelt es sich bei den Tätern um männliche Familienangehörige oder Bekannte der Familie. Die Bandbreite der Umstände, unter denen Kinder mißbraucht werden, ist sehr groß, sie reicht von spielerischen Zärtlichkeiten, die die Schamgrenze des Kindes überschreiten, bis zu erpresserischer und handgreiflicher Gewalt. Immer aber wird das Vertrauen des Kindes in einen beschützenden und geliebten Erwachsenen auf mehr oder minder traumatische Weise mißbraucht. Ein Kind hat keine Wahl, es ist dem Erwachsenen ausgeliefert und wird alles tun, um geliebt zu werden. Es wächst heran mit einem Grundgefühl von Schuld und Unwert. Sehroft werden diese Schädigungen erst in einem späteren Lebensabschnitt schmerzlich bewußt und drängen auf Bewältigung und Klärung.

' Name von der Redaktion geändert Die Autorin studiert Psychologie und ist in psychotherapeutischer Ausbildung; sie arbeitet in der Beratungsstelle Verein Tamar. Die Beratungsstelle Verein Tamar ist unter der Telefonnummer0222/425-415 erreichbar; Mo.-Fr.: 8.30-11.30, Do. 15-18 Uhr. Es gibt eine wöchentliche Selbsthilfegruppe für betroffene Frauen. Geschulte Beraterinnen, eine Kinderpsychologin, eine Ärztin, eine Juristin und eine Sozialarbeiterin stehen zur Verfügung. Alle Beratungen sind kostenlos und anonym.

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