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Am Ende der Ära Leonid Breschnew

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Die Breschnew-Ära neigt sich ihrem Ende zu und damit dringen Begleiterscheinungen an die Öffentlichkeit, die mit einer Wachablöse im Kreml verbunden sind.

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Die Breschnew-Ära neigt sich ihrem Ende zu und damit dringen Begleiterscheinungen an die Öffentlichkeit, die mit einer Wachablöse im Kreml verbunden sind.

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Der Generalsekretär ist alt und gebrechlich, er ist nicht nur erster unter Gleichen, auch erster unter Gleichaltrigen, solange die Jüngeren in der Schaltzentrale des Sowjetreiches in Schranken gehalten sind. Zeit, sich geruhsam in die Staatspension zurückzuziehen, bleibt für Kremlgenossen nur, wenn sie aus ihren Machtpositionen gedrängt worden sind. An allem könne man sich sattkonsumieren, hat schon der gesprächige Vorgänger Nikita Chruschtschow gesagt, an Delikatessen, an Frauen, nicht aber an der Macht.

Damit ist an den ehernen Gesetzen im Kreml gerührt, solange die Nachfolgefrage nicht gelöst ist Sturz oder Tod eines Führers zieht unweigerlich den Diadochen-kampf der Prätendenten nach sich. Und dieser Auseinandersetzung kann sich auch Breschnew nicht entziehen, begreiflicherweise bemüht, den Hof der roten Zaren an einen Vertrauten zu übergeben.

Uber dem Gelingen dieses Planes hängt das große Fragezeichen. Nach der Logik der Breschnew-schen Taktik ist Konstantin Tschernenko der Favorit. Seit dreißig Jahren leitet der untersetzte Politiker den Stab des Kremlchefs. Tschernenkos Aufstieg ist kometenhaft, erstaunlich für einen Mann, der schon an der Wende zum siebten Lebens Jahrzehnt steht. Erst drei Jahre im Politbüro scheint er jetzt den Platz des verstorbenen Michail Suslow als der zweite in der Hierarchie einzunehmen.

Gegen Tschernenko spricht die Logik der Kremlsukzession. Erklärte Kronprinzen ziehen in der Auseinandersetzung um die Nachfolge in der Sowjetgeschichte stets den kürzeren. Nicht Bu-charin oder Trotzki folgten Lenin, sondern Stalin, nicht Malenko war der Erbe Stalins, sondern Chruschtschow, und mit Breschnew stand bei Nikitas Entmachtung nicht der Favorit im Führungskreis.

Seltsame Ereignisse, die schwerlich auf einen Nenner gebracht werden können, sind Merkmale der Auseinandersetzung um die Nachfolge. Der skurril-sarkastische imaginäre Nachruf auf einen Dichter, der nicht sterben will in einer obskuren Literaturzeitschrift ist eine erklärte Mahnung an den ersten Mann in Staat und Partei, einem anderen Platz zu machen.

Dann die Korruptionsaffäre um Zirkusartisten und -direktoren, die Spuren führen zur Tochter Breschnews, Galina, die mit dem stellvertretenden Chef des Innenministeriums, Generalleutnant Churbanow verheiratet ist; der mysteriöse Tod oder Selbstmord des Stellvertreters von KGB-Chef Andropow, der sich tatkräftig in die Antikorruptionskampa-gne eingeschaltet hatte und deshalb den Unmut des damals noch lebenden Chefideologen Suslow zugezogen hatte.

Suslow wiederum hatte um die weiße Weste seiner Kollegen Sorge. Nach Suslows Tod scheint die eiserne Disziplin zur Wahrung menschlicher Unbestechlichkeit im vollsten Sinne des Wortes im Kreml gebrochen.

Nicht von ungefähr schließlich, wie seit jeher das Durchsickern von Skandalgeschichten gehandhabt wird: Wenn es opportun ist, dann wird auch die sonst so geringgeschätzte öffentliche Meinung als Waffe in der Auseinandersetzung eingesetzt. Selbst Breschnews Sohn Juri bleibt von der Fama nicht verschont, genauso wie vor fast dreißig Jahren Gerüchte gegen Stalins Sohn Wassili gezielt gestreut worden sind. In derselben Weise, wie Chruschtschows Reputation durch unterschwellige Enthüllungen über die Machenschaften von Schwiegersohn Adschubei und anderen Angehörigen des Familienklans zu untergraben versucht wurde.

Ob die Absetzung des Gewerkschaftspräsidenten Schibajew in dieses Muster paßt, ist nicht klar. Schibajew mußte gehen, weil es ihm nicht gelungen ist, die Arbeitsdisziplin und Produktivität anzuheizen. Davor haben schon weit Mächtigere kapituliert.

Demonstrativ erscheint der Generalsekretär in der Öffentlichkeit, um politische und physische Gesundheit zu demonstrieren. Doch diese Geste reicht nicht aus, um zu vertuschen, daß am Denkmal gekratzt wird.

Zu viel auf einmal ist in den letzten Jahren schiefgelaufen, um den Alten völlig von jeglicher Schuld auszunehmen. Die einst so gepriesene Stabilität ist zur Un-beweglichkeit erstarrt. Versprechen -auf eine goldene Zukunft blieben uneingelöst, und Zukunftvisionen bleiben für den einzelnen das, was die Trauben für den Fuchs bedeuten.

Breschnews grandiose Agrar-pläne und Neulandgewinne haben nicht verhindert, daß der Sowjetbürger schlecht versorgt bleibt; drei Mißernten schlagen sich in leeren Verkaufsständen nieder. Die Verteilung ist schlecht wie eh und je.

Der Westen beißt auf die großen Entspannungsbeteuerungen nicht mehr an — nach Polen und Afghanistan weniger denn zuvor. Und die Sowjetjugend zeigt sich für die ideologische Ausrichtung nicht mehr so aufnahmebereit wie in den vergangenen Jahrzehnten.

Alles das sind Fakten, die einmal, vielleicht posthum, gegen Brechnew ausgespielt werden könnten. Auch solches gehört zum Propagandaarsenal neuer Herren im Kreml. Das spricht auch gegen die Nachfolge eines engen Vertrauten des derzeitigen Machthabers. Ein Tschernenko müßte auf dieses Mittel zur Festigung der Macht verzichten.

Was immer aber in den nächsten Wochen aus den sonst dichtverschlossenen Kremlmauern nach außen dringt, die legendären Politastrologen werden viel Stoff erhalten, bevor die Kommentatoren das Feld beherrschen.

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