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Am Ende des Eiertanzes

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Zweieinhalb Jahre lang mußte Willy Brandt vor der Abstimmung über die Ratifizierung der Ostverträge zittern. Von seiner ohnehin knappen Mehrheit bröckelte immer wieder ein Mann ab, und zum Schluß hatte der Bundeskanzler nicht einmal die eine Stimme Mehrheit, von der er sich gerühmt hatte, sie werde ihm genügen, um bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuhalten. Nur infolge des Verrats zweier anonymer Feiglinge in der CDU war Brandt nicht gestürzt worden, als die CDU ein konstruktives Mißtrauensvotums riskierte, und schon einen Tag nach dem Pyrrhussieg lehnte der Bundestag mit Stimmengleichheit den Haushalt des Kanzlers ab.

Am 17. Mai aber votierte der Bundestag mit der gleichen Stimmenzahl von 248 Ja-Stimmen die Ostverträge, denn die CDU-CSU hatte die Parole Stimmenthaltung ausgegeben und der größte Teil ihrer Abgeordneten war dieser Weisung gefolgt. Nur zehn Abgeordnete stimmten gegen den Moskauer, 17 gegen den Warschauer Vertrag. Im gleichen Augenblick also, da des Kanzlers Mehrheit zur Minderheit geworden war — denn 249 beträgt die absolute Mehrheit der Stimmen im Bundestag — beendete die Union ihren durch mehr als zwei Jahre zähe und zeitweise leidenschaftlich geführten Kampf gegen die Ostverträge. Brandt hat zwar keine Mehrheit und muß fürchten, daß die Fortsetzung der Haushaltsdebatte ihm neue Schlappen einbringt, aber er hat auch keinen politisch potenten Gegner mehr. Die stärkste Opposition, die es je in einem deutschen Parlament gegeben hat, ist schlechthin handlungsunfähig geworden. Wie konnte das geschehen? War ihre Haltung zur Ostpolitik Brandts falsch? Führende Männer der CDU geben offen zu, daß sie Angst vor Neuwahlen haben.

Diese Furcht der CDU/CSU vor Neuwahlen ist berechtigt. Sie hat nicht die SPD zu fürchten, aber die mächtigen, beinahe allmächtigen Verbündeten der SPD, also die Massenmedien und die von ihnen gemachte „öffentliche Meinung“. Sie hat wenig Geld, während die SPD im Geld schwimmt. Gerade die Kreise, die finanziell wichtig sind, waren für die Ratifizierung, teils weil sie auf das Rußlandgeschäft hoffen, teils, weil sie für die Ruhe in den Betrieben fürchten, denn die Gewerkschaften haben am 1. Mai unmißverständlich bewiesen, daß sie mit aller Macht in den Kampf für die Regierung Brandt einsteigen werden. Aber das alles hätte die Union längst wissen müssen. Wozu die Linksregierung entschlossen war und wer in breiter Front hinter ihr steht, zeigte sich schon wenige Tage nach der Bundestagswahl von 1969. Aber die CDU/CSU hat rund eineinhalb Jahre überhaupt keine Oppositionspolitik betrieben, sie hat keine klaren Parolen ausgegeben, sie war unentwegt damit beschäftigt, ihre eigenen Führungsfragen zu klären, mit dem Ergebnis, daß Rainer Barzel heute schon wieder wackelt, daß sich in den letzten Tagen Schröder wieder in den Vordergrund gespielt hat, daß der Pfälzer Kohl plötzlich gegen die Verträge sprach, daß es zwischen Barzel und Strauß zu einer harten Kontroverse kam und Barzel

überhaupt nur dann in den Wahlkampf ziehen kann, wenn die SPD ihn gewissermaßen wegen Wohlverhaltens empfiehlt (mit dem Hintergedanken, ihn damit zu erledigen). Noch in den letzten Tagen war Bar-zels Politik ebenso sprunghaft, schillernd und unklar wie seine Eloquenz brillant war. Er stellte Brandt immer neue Bedingungen, und es sah aus, als habe er alles mögliche erreicht, während er in Wahrheit jede seiner Forderungen unter den Tisch fallen ließ, wenn Brandt eine beschwichtigende und fragwürdige Erklärung abgab. Mit dieser Haltung kann man freilich nicht vor die Wähler treten, die am Ende nicht mehr wußten, was Barzel und die Union eigentlich wollten, während die SPD immer kräftiger in die eine Kerbe der „Friedenspolitik“ hieb. Die Union nützte es nicht aus, daß Moskau doch gerade jetzt in Vietnam ein hervorragendes Beispiel dafür liefert, was es unter Friedenspolitik und Entspannung versteht, sie ließ sich im Gegenteil einreden, man müsse durch Nachgiebigkeit gegenüber den Sowjets Nixons Politik unterstützen. Barzel handelte logisch, wenn er am Ende des virtuosen Eiertanzes, den er produziert hat, seiner Fraktion vorschlug, für die Ratifizierung zu stimmen. Es war aber ebenso logisch, daß Strauß und die CSU ihm hier nicht folgen konnten. Die CSU hätte dann allerdings endlich wahrmachen müssen, was sie insgeheim und halboffiziell seit Jahren androht: daß sie auch außerhalb Bayerns kandidieren und der Union damit einige hunderttausend Stimmen einbringen wird, die für die CDU niemals abgegeben werden.

Aber wieder einmal wurde eine Partei durch das Zauberwort „Einigkeit“ geblendet.

Zunächst wird es freilich erst einmal die Neuwahlen geben, und es wird der CDU/CSU wenig nützen, daß sie aus Angst vor eben diesen Wahlen die Verträge passieren ließ. Wehner wird einen Trick finden, um die Neuwahlen zu erzwingen. Die Union wird einige hunderttausend Stimmen von Ostdeutschen und nationalkonservativen Wählern verlieren. Sie wird von der SPD angeklagt werden, daß sie sich nicht zu

Karikatur: Haitzinger, „Nebelspalter“ den Verträgen bekannt habe, und wird niemandem einreden können, daß sie gegen die Verträge gekämpft habe. Bis zu den Wahlen wird sich Moskau mit Forderungen zurückhalten, nur die völkerrechtliche Gleichstellung der DDR wird aber immer dringender angemahnt werden. Es ist auch unlogisch, sie zu verweigern, nachdem man alle Prämissen zugestanden hat. Und es müßte ein Wunder geschehen, wenn die CDU noch einmal an die Macht kommen soll.

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