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Am Rande der Gesellschaft

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Wer das vorweihnachtliche Treiben in Budapest beobachtet, das beträchtliche Warenangebot, die Fülle der kleinen privaten Läden, den Einfallsreichtum der Kleinstunternehmer — ob sie nun gleich vom Leiterwagen aus Brot verkaufen oder die Produkte ländlicher Weberei und Stickerei auf der Straße feilbieten -, wer all das erlebt und mit den Betroffenen diskutiert, wird zu dem Schluß kommen, daß das gemeinsam erarbeitete Sozialprodukt größer sein muß als jemals in der ungarischen Vergangenheit.

Aber die Prosperität kann nicht allen gleichmäßig zugute kommen. Die einen können sich allen Luxus, einschließlich teurer Auslandsreisen, gönnen, andere haben ein bequemes Auskommen, aber allzu viele sind so arm gebheben, wie vor dreißig Jahren noch alle waren — bis auf eine dünne Funktionärsschicht.

Sind diese Menschen am Rande der Gesellschaft von allen vergessen? Offenbar nicht von den Schriftstellern, von den Theater-und Filmleuten. Sie spüren, daß in der städtischen und ländlichen Peripherie gefährlicher politischer Zündstoff lagert. Der Film nimmt sich schon seit Jahren der vom Aufschwung Vergessenen an. Auch das Theater, obwohl es am liebsten nostalgisch in die „gute alte Zeit“ blickt, stört gelegentlich die emsige Gesellschaft durch schrille Töne.

So wurde vor kurzem bis in höchste Parteikreise diskutiert, ob das neue Stück von György Spiro, „Hühnerkopf“, in der heutigen Situation opportun sei. Spiro hatte schon vor drei Jahren mit einem Stück Aufsehen erregt, das um 1800 im russisch besetzten und unterdrückten Polen spielt. Nun hat der Autor alles historische Kostüm beiseite gelassen und zeigt das Leben in einem abbruchreifen Haus am Stadtrand.

Als der Vorhang aufgeht, sieht man an der Teppichstange eine erdrosselte Katze baumeln. Die alte Frau kommt vom Markt mit einem Beutel voll blutiger Hühnerköpfe. Sie entdeckt zu ihrem furchtbaren Schmerz den toten Gefährten ihrer Einsamkeit, begräbt ihn schließlich im Hof, streut die Hühnerköpfe aufs Grab und zündet Totenkerzen an. Der Mörder ist bald entdeckt: der „Bursche“, der junge Sohn des ständig betrunkenen Vaters (niemand hat hier einen individuellen Namen). Der Bursche hat drei Tage Urlaub von dem Heim, in dem er erzogen wird, weil die geschie-denen Eltern dazu unfähig sind. Er hat sich mit einem Komplizen in provozierender Punk-Aufmachung zusammengetan.

Der Bursche liebt seinen Vater und weiß nicht, wie er sich ihm nähern soll. Der Vater, beinahe infantil dumpf, redet davon, daß die alte Frau den Sohn ins Erziehungsheim gebracht hat. Dadurch seien ihm 10.000 Forint an Erziehungsbeihilfe entgangen (die er in viele Flaschen Schnaps hätte verwandeln können). In Wirklichkeit hatte die einsame Alte gehofft, selbst das Sorgerecht für den damals noch kleinen Jungen zu bekommen, und sie ist auch nach der Untat noch bereit, ihm Gutes zu tun. Der Bursche hat von allem nur verstanden, daß die Alte seinem Vater 10.000 Forint geraubt hat. Als er mit dem Komplizen die Alte ermordet, hofft er, das Geld zu finden und die Liebe des Vaters damit zu gewinnen.

Die Inszenierung von Gabor Zsämbeki führt mit harter Realistik eine kleine Gesellschaft mit verkümmertem Gefühlsleben vor, ausgestoßen, verarmt, verkommen. Die Obrigkeit schert sich kaum um sie. Eine Magistratsangestellte kommt vorbei, um in dem zum Abbruch bestimmten Haus vorbereitende Messungen für die vorgesehene Gaszuleitung durchzuführen. Da sie nicht zuständig ist, stoßen alle Beschwerden der Mieter bei ihr auf taube Ohren.

Zwei Polizisten werden auf komische Art als außerordentlich dumm hingestellt. Obwohl sie auf dem Hof stehen, bemerken sie den Mord erst, als es zu spät ist. Ihre Auftritte sind im Grunde makabre Clowns-Szenen, ebenso die Auftritte zweier Teenager, die von ihrem Gymnasiallehrer Nachhilfestunden bekommen. Nur eines der beiden Mädchen hat überhaupt die Absicht, die komplizierte Auslegung eines ungarischen Lyrikers zu verstehen. Als sie beim Abschied dem Lehrer das

Honorar in die Hand drücken, läuft dieser gleich, um Brot einzukaufen. Lehrer sind in Ungarn noch immer sehr schlecht bezahlt. Die vierte Wohnungstür führt in die Wohnung einer Krankenschwester, die ihre Einsamkeit mit gelegentlichen Besuchern stundenweise teilt. Auch sie ist nicht imstande, den Weg zu einem anderen Menschen zu finden.

Es ist ein deprimierender Abend. War dies der Grund für die Bedenken oder lag er darin, daß einige der handelnden Personen ständig ein obszönes Wort im Munde führten — auch dies ein Symptom für die Artikulationsschwäche? Es gab jedenfalls Versuche, das Publikum vor dieser Unerfreulichkeit zu schützen. Erst gut eine Woche nach der Premiere konnten die Kritiken erscheinen — die dann allerdings besonders zustimmend ausfielen. Der Vorstellungsbeginn wurde von 19 auf 20 Uhr verlegt, so daß nachher kaum noch eine Möglichkeit besteht, mit einem öffentlichen Verkehrsmittel heimzufahren. Vielleicht ist es wirklich gefährlich, die Werktätigen einer Trostlosigkeit auszusetzen, wie sie ihnen sonst nur aus Stücken eines Maxim Gorki vertraut ist. Aber damals hatte man ja noch die Hoffnung auf die kommunistische Revolution.

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