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Am Rande des Todes

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Eir legte Brot und Wurst bald weg, verstaute beide in der Tasche und nahm einen Apfel zur Hand. Er war versucht, darüberhin zu reiben, ihn zwischen den Handflächen zu drehen, aber er unterließ es, weil Pech und Erde und Moos ihre Spuren hinterlassen hatten. Er roch an der Frucht, es lockte ihn, sie in die Glut zu legen, den Apfel zu braten, ihm allen Duft zu entlocken, den er besaß. Doch er war durstig, und sein Teevorrat so gering, daß es besser war, den Apfel zu essen, saftig wie er war und voll Flüssigkeit. Er holte das Taschenmesser hervor und begann Scheibe für Scheibe abzuschneiden, dünne Spalten, die er bedächtig in den Mund schob, an denen er lange sog und die er zerkaute, bis die fruchtige Säure den Speichel lockte und er spürte, wie die Schleimhaut der Wangen sich zusammenzog.

Er war jetzt weniger durstig, vielmehr lief ihm das Wasser in angenehmer Weise im Mund zusammen und er mußte mehrmals ausspucken. Als sich ein flaues Gefühl im Magen bemerkbar machte, wußte er, daß er den Apfel nicht auf diese Art hätte essen sollen, weil er, wegen seiner Magensäure, von Zeit zu Zeit Äpfel schlecht vertrug. Aber immer wieder ließ er sich von der Schönheit der Früchte verlocken, und in letzter Zeit hatte er sie auch vertragen. Gerade heute waren die alten Beschwerden wieder zum Vorschein gekommen. Er suchte nach dem Brot und brach in der halben Dunkelheit einfach ein Stück ab, begann es zu kauen, um den Speichel zu binden und den überschüssigen Magensaft zu beschäftigen. Zuletzt nahm er auch einen Schluck aus der Feldflasche. Besser jetzt, dachte er, wo ich ihn notwendiger brauche als in der Frühe. Es war nur ein kleiner Schluck, er maß ihn sich zu, aber er fühlte sich danach besser.

Dann kramte er die Zigaretten hervor und zündete eine an. Er rauchte langsam, doch ohne besonderen Genuß. Er vermißte die Schwaden, die vom glühenden Ende wegzogen. Er dachte, daß es ein halbes Vergnügen sei, im Dunkeln zu rauchen. Es war nicht nur der Geschmack, der Geruch, es war der Schleier aus blauem Dunst,

der den Raucher erfreute. Als die Zigarette herabgebrannt war, legte er den Stummel an den Rand des Feuers und sah zu, wie er vergloste und die goldene Schrift der Markenbezeichnung im Aschenzeichen lesbar wurde.

Er warf einige Zapfen ins Feuer, sie öffneten sich in der Hitze mit kleinen, knatternden Geräuschen, .ehe sie zu brennen anfingen. Mit einem Ast aus dem Vorratshaufen stocherte er in der Glut, bis wieder hellere Flammen hochzüngelten.

Er erhob sich schwerfällig, merkte, daß nach dem Sitzen sein verletzter Fuß steifer geworden war, und humpelte ein paar Schritte von seinem Lagerplatz weg, um nach dem Mond zu sehen. Es mußte schon spät am Abend sein, denn er stand, von Dunstschichten getrübt, über dem Türkenkopf. Es würde schlechtes Wetter geben.

Er sah nach den Baumwipfeln, die sich im Westwind bogen. Wenn er lauschte, hörte er sie rauschen. Mühsam Fuß vor Fuß setzend, begab er sich wieder zu seinem Feuer und nahm den alten Platz unter der Buche ein. Er legte das rechte Bein in den Lichtschein des Feuers, schob den Strumpf über den Schuh und zog die Hose hinauf. Die Schwellung ließ jetzt den vorhin aufgebundenen Schuh auseinanderklaffen. Die Haut über der verletzten Stelle war heiß, und er glaubte im ungewissen Licht zu sehen, daß sie bläulich verfärbt war.

Einen Augenblick überlegte er, ob er nicht den Schuh ausziehen sollte. Der Fuß würde zwar an Halt einbüßen, aber es würde angenehmer sein. Gehen konnte er mit oder ohne Schuhe nicht mehr, wenigstens nicht weiter als einige Meter, und das kranke Bein war nicht zu gebrauchen. Er bemühte sich, den Schuh abzustreifen, stützte die Ferse in den weichen Boden und hielt sie mit dem gesunden Fuß fest. Aber der Schuh gab nicht nach. Er umschloß das aufgequollene Fleisch. Wahrscheinlich waren auch Rist und Zehen angelaufen.

Er lehnte sich zurück, atmete tief und wartete, bis das brennende Stechen nachließ. Dann entschloß er sich, den Schuh an den Nähten aufzutrennen. Er klappte die kleine Klinge des Taschenmessers auf und führte sie mit der linken Hand an den Schuh heran. Es gelang ihm, ein bis zwei Zentimeter aufzutrennen, doch plötzlich rutschte das Messer ab und fuhr durch den Strumpf ins Fleisch. Die Spitze war nicht sehr tief eingedrungen, und der Stich hatte auch kaum geschmerzt, doch bildete sich sofort ein dunkler Fleck.

Später betupfte er die Wunde mit Speichel. Sie war glattrandig und etwa einen halben Zentimeter lang. Der Schnitt lag dunkel in der weißlichen Haut. Immer wieder stiegen blutige Perlen hoch und versickerten an den Rändern. Er bedauerte, kein Zeitungspapier mitzuhaben. Früher, als er sich noch mit Klinge und Messer rasiert und geschnitten hatte, war ein Fetzchen Zeitungspapier der wirksamste Blutstiller gewesen. So versuchte er es weiter mit Speichel und dem Taschentuch. Schließlich verlor er die Geduld und stopfte das Taschentuch zwischen Wunde und Strumpf. Neuerlich begann er die Nähte zu trennen, hielt jetzt allerdings mit der rechten Hand das bearbeitete Lederstück vom Fuß ab.

Einmal unterbrach er die Tätigkeit, um eine Zigarette zu rauchen und die verrenkten Glieder zu strecken. Er horchte nach dem Wind, der, wie es ihm schien, stärker geworden war.

Die Zigarette noch im Mundwinkel, ging er wieder ans Werk. Je tiefer er in die Naht eindrang, desto rascher kam er voran. Zudem gelang es jetzt, wo die ziehenden Finger bereits ein Stück Leder in den Griff bekamen, die Naht einzureißen, was immerhin einige Zentimeter Arbeit mit dem Messer ersparte. Schließlich hatte er den Schuh bis zur .Sohle aufgetrennt, und mit einer letzten Anstrengung schälte er den geschwollenen Fuß aus dem Leder. Er legte das Bein ins Moos und genoß die Kühle. In der Schwellung kribbelte es. Er glaubte, daß sein Fuß sich dehnte und riesig wurde. Tausend Ameisen schienen darin zu laufen und seine Form zu sprengen. Er streifte auch den linken Schuh ab.

Wie gut, dachte er, gegen Wundstarrkrampf geimpft zu sein.

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