6993495-1987_01_11.jpg
Digital In Arbeit

Am Rande unserer Gesellschaft

19451960198020002020

Die UNO erklärte das Jahr 1987 zum „Internationalen Jahr zur Beschaffung von Unterkünften für Obdachlose“. Jüngste Untersuchungen zeigen, daß ein Viertel der Menschheit unter unmenschlichen Bedingungen leben muß. Obdachlosigkeit ist heute weitaus mehr als nur der Mangel an Wohnungen.

19451960198020002020

Die UNO erklärte das Jahr 1987 zum „Internationalen Jahr zur Beschaffung von Unterkünften für Obdachlose“. Jüngste Untersuchungen zeigen, daß ein Viertel der Menschheit unter unmenschlichen Bedingungen leben muß. Obdachlosigkeit ist heute weitaus mehr als nur der Mangel an Wohnungen.

Werbung
Werbung
Werbung

Obdachlose gelten zumeist als arbeitsscheue und asoziale Elemente in unserer Gesellschaft. Häufig findet man sie in den öffentlichen Parkanlagen, oft gruppenweise zusammensitzend und fast nie ohne Bier- und Weinflaschen. Die meiste Zeit des Tages scheinen sie demnach mit Nichtstun oder Trinken zu verbringen.

Ihr ganzes Interesse gilt nur dem jeweiligen Augenblick, ohne viel Energie für Fragen nach der Zukunft zu verschwenden. Ein Leben also, das sich außerhalb

der üblichen Normen der Gesellschaft abspielt.

Obdachlosigkeit besitzt aber auch eine ganz andere Dimension. Was bei uns eher als ein soziales Randproblem zu bewerten ist, zeigt sich weltweit gesehen oft als eine Not von ungeheuren Ausmaßen.

Aufgrund jüngster Untersuchungen der UNO wurde festgestellt, daß schätzungsweise ein Viertel der gesamten Menschheit keine adäquaten Wohnmöglichkeiten besitzt.

An die 100 Millionen Menschen verbringen ihr gesamtes Leben auf der Straße und übernachten unter Brücken oder in Ruinen. In Lateinamerika schätzt man die Anzahl von obdachlosen Kindern schon auf über 20 Millionen. An zahlreichen Orten der Dritten Welt gibt es nach dieser Untersuchung für je 1000 Menschen nur einen Wasserhahn, der die Menschen mit lebensnotwendigem Wasser versorgt.

Als obdachlos sind hier vor allem auch Millionen von Flüchtlingen zu nennen, die aufgrund politischer Ereignisse oder wegen Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen mußten und nicht mehr besitzen, als sie gerade noch mit sich tragen können.

Das Problem der Obdachlosigkeit besitzt demnach in der Dritten Welt ein vollkommen anderes Gesicht als in den reichen Industrieländern und doch scheint es in geänderter Form nicht weniger akut zu sein für unsere Gesellschaft als für die Armen in den Entwicklungsländern.

Es fehlt hier nicht so sehr am lebensnotwendigen Dach über dem Kopf, viel eher geht es um ein Phänomen der sozialen Entfremdung und Entwurzelung von immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft, zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, zwischen Nachbarn und verschiedensten gesellschaftlichen Gruppie-

rungen. Entfremdung und Vereinsamung sind nämlich oft die ersten Wurzeln einer zukünftigen Obdachlosigkeit.

Bruce Ritter, ein Franziskanerpater aus New York, lernte vor etwa 15 Jahren erstmals die Erfahrung von obdachlosen Jugendlichen in den Slums der amerikanischen Großstadt kennen.

Eines Abends klopften während eines stürmischen Gewitters vier Burschen und zwei Mädchen an sein Haustor und baten um Einlaß. Alle waren sogenannte Streetkids, obdachlose Kinder, die von zu Hause weggelaufen waren und sich seither ihr Leben auf der Straße verdient hatten. Weil sie nicht länger in der Hand von Zuhältern leben wollten, hatten sie sich entschlossen, im Haus von Pater Bruce Zuflucht zu suchen. Fast alle wurden schon in ihrer Kindheit vergewaltigt oder

mißbraucht, oft geschlagen und stammen durchwegs aus Familien von Alkoholikern.

Da Pater Bruce keine karitative Organisation ausfindig machen konnte, die sich seiner Kinder annahm, war er gezwungen, sie zunächst bei sich zu behalten. Das Problem verschärfte sich insofern, als Tag für Tag immer mehr Streetkids in sein Haus kamen

und bleiben wollten. Dies war der Beginn von „Covenant House“ (Haus der Verheißung) vor 15 Jahren, seither betreute dieses Hilfswerk auf privater Basis mehr als 50.000 Kinder und Jugendliche in den Vereinigten Staaten.

Diese Kinder sind die Opfer eines sozialen Niedergangs und familiären Zerfalls in unserer Gesellschaft, meinte Father Bruce in einer Rede vor dem Senatsaus-

schuß für Familienangelegenheiten in Washington. Seiner Ansicht nach ist das Beispiel der Streetkids nur als ein Symptom einer tiefen Unruhe zu bewerten, in der sich unsere Gesellschaft befindet.

Die Familie galt seit jeher als jene feste und unerschütterliche Institution, in der Liebe, Treue, Schwächen und praktische Hilfen in geheimnisvoller Weise miteinander verbunden sind. Heute dagegen scheint diese Institution, die schon immer auch als Inbegriff von Geborgenheit und Obdach galt, näher dem Zerfall zu sein denn je.

Familie leidet zuerst

Die steigende Anzahl von Ehescheidungen bewirkt unter anderem, daß Mütter immer häufiger arbeiten müssen und daneben noch die Last eines Haushaltes zu führen haben, oft bis an den Rand des Unerträglichen (FURCHE 50/ 1986). Das fürchterliche Phänomen der Gewaltanwendung gegen Kinder findet sich fast tagtäglich in den Schlagzeilen der Zeitungen. Ohne Zweifel leidet die Familie als erstes unter dem moralischen und sozialen Zerfall einer Gesellschaft.

Zerbrochene Familien und elternlose Kinder bleiben aber eine andauernde Herausforderung für unsere Generation. Wir müssen damit beginnen, daß in erster Linie die Versöhnung in der Familie unsere größte Hoffnung sein soll und nicht die möglichst frühzeitige Emanzipation der Jugendlichen.

Dort, wo Familien hoffnungslos zerfallen sind, soll man versuchen, die Kinder in eine Gemeinschaft einzubinden, in der sie jene Werte erfahren, die die „Menschheit als höchstes Gut von Generation zu Generation weitergibt“ (George Eliot).

Die meisten Obdachlosen, die wir in den Straßen oder Parkanlagen treffen, haben noch nie ein intaktes Familienleben kennengelernt, sondern meist nur Heime und Gefängnisse. Im Alter wird es dann fast unmöglich, sie wieder an ein normales Leben zu gewöhnen, es nützen dann auch noch so große Geldspenden nichts mehr. Die Wurzel allen Übels liegt nämlich viel tiefer, in ihrer eigenen Kindheit, in ihrer eigenen zerbrochenen Familie.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung