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Am Totenbett der Umwelt

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Was geschieht, wenn nichts geschieht, zeigt das Beispiel Polens. Erstmals gibt es Berichte über die katastrophalen Umweltprobleme im Land der rauchenden Schlote.

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Was geschieht, wenn nichts geschieht, zeigt das Beispiel Polens. Erstmals gibt es Berichte über die katastrophalen Umweltprobleme im Land der rauchenden Schlote.

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Erstmals wird nun in Polen über den Ernst der Lage öffentlich berichtet. Nur eine erhebliche Wandlung im Denken konnte dies ermöglichen. Denn jahrelang wurde das Thema Umwelt vom offiziellen Informationsumlauf ferngehalten. Nun kommt es in statistischer Klarheit ans Tageslicht.

„Die Bäume sterben!“ - ist der Titel jenes Beitrags, der die katastrophale Situation der polnischen Wälder rückhaltlos schü-dert. Das vom staatlichen Institut für Waldschutz stammende Datenmaterial gibt eine klare Vorstellung vom Ausmaß der Gefährdung: „Uber fünf Millionen Hektar von Polens Wäldern befinden sich in äußerster Gefahr, was bei einer gesamten Waldfläche von 8,64 Millionen Hektar bereits zwei Drittel des Gesamtbestandes ausmacht“, so heißt es in dem Bericht.

Eine nüchterne Statistik. Aber welche verheerende Tatsache wird hier offenbar! Manche Wissenschafter sehen die Zukunft in düsteren Farben, verheerende Katastrophen auf das Land zukommen:

„Bis zum Jahr 2000 werden die toxischen Emissionen in Polen weiter steigen — eine unabwendbare Zerstörung der gesamten Waldfläche zeichnet sich ab: Ein völliges Absterben der Tannen, Fichten und Föhren ist zu erwarten. Das erschreckende Bild einer postindustriellen Wüste drängt sich als extreme Variante einer verheerenden Entwicklung auf.“

Die Verantwortung für diese mögliche Situation tragen vorwiegend die Industriebetriebe. Nur wenige von ihnen verfügen nämlich über geeignete Filteranlagen. Im Jahr 1983 hat allein die Industrie 1,73 Mülionen Tonnen Staub an die Umwelt abgegeben. Besonders gefährlich ist der Staub, der von Schwermetallen rührt. Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge ist er um ein Vielfaches schädlicher als etwa Schwefeldioxid.

Bei all den Emissionen sind die Schutzmaßnahmen in Polen unzureichend. Der Widerspruch zwischen Erkenntnis und Status quo ist offensichtlich. Er scheint ein Ergebnis jener merkwürdigen Rechnung zu sein, bei der „Strafe zu zahlen sich mehr lohnt als Umweltschutz“.

Eine beträchtliche Chance zur Verminderung der Gefahr wäre die Unterzeichnung der Internationalen Konvention von München 1984 gewesen. In ihr wurde eine Reduzierung der Emission von Schwefeldioxid bis zum Jahr 1990 um 30 Prozent verlangt.

Polen hat diese Chance jedenfalls aus finanziellen Überlegungen heraus nicht ergriffen. Dies scheint ein Beweis dafür zu sein, daß wirtschaftliches Kalkül den Selbsterhaltungstrieb ausschaltet. Dieses rein ökonomisch geprägte Denken stellt eine ernsthafte Bedrohung des ökologischen Systems, von dem unsere Existenz abhängt, dar.

Ein großer Teil der „Odra“-Be-richte bezieht sich auch auf die ständig steigende Verschmutzung der Gewässer in Polen. Zwar gibt es theoretische Sanierungspläne, sie werden jedoch kaum verwirklicht. So berichtet das Prognostische Zentrum der Technischen Universität in Wroclaw (Niederschlesien), daß nur ein Prozent der Länge aller Flußläufe die Güteklasse I aufweist (sauberes Wasser mit vielfältigem Fischbestand).

50 Prozent der Flüsse sind mehr oder weniger verschmutzt (Güteklasse II: mit stark verminderter Fauna). Und 49 Prozent aller Flußläufe weisen somit totes Wasser auf.

Ein typisches Beispiel für letzteres ist die Weichsel, in die jährlich 90.000 Tonnen Nitrat und 5.000 Tonnen Phosphat gelangen. Ähnlich die Oder: Sie ist auf 87 Prozent ihrer Länge tot, ein Zustand, der so viele andere polnische Flüsse ebenfalls kennzeichnet.

Uber 60 Prozent der giftigen Stoffe werden jahrein, jahraus ins Meer transportiert, so daß das Baden und der Aufenthalt am Strand in vielen Gebieten beinahe „lebensgef ährlich“ ist. Kern Wunder, daß die Ostsee schwer krank ist, daß auch dort die Fische sterben.

In ländlichen Gebieten mußten in den letzten Jahren insgesamt 52 Prozent der Brunnen und acht Prozent der öffentlichen Wasserleitungen außer Betrieb gesetzt werden (im städtischen Bereich waren es nur drei Prozent). Und dabei sind die Prüfungsmethoden für Trinkwasser unzulänglich. Für einige Stoffe reichen die Analysemethoden noch nicht aus.

Von vielen polnischen Kurorten (etwa von Polanica in Niederschlesien) wird berichtet, daß sogar das Mineralwasser große Mengen an Nitrat und Ammoniak enthält. Dabei treten Werte auf, die den Genuß bedenklich machen und den Vertrieb des Mineralwassers in Frage stellen.

Die Berichte der „Odra“-Auto-ren stimmen mit Fritjof Capra überein, der in seinem Buch „Wendezeit“ festgestellt hat: „ökologisches Bewußtsein wird nur entstehen, wenn wir unser rationales Wissen mit Intuition für das nichtlineare Wesen unserer Umwelt verbinden.“ Es genügt also nicht, ökologische Ethik zu propagieren, sondern es müssen die erarbeiteten Lösungen auch politisch umgesetzt werden.

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