6874369-1978_38_21.jpg
Digital In Arbeit

Am wichtigsten ist Praxisnähe

19451960198020002020

„In jedem Land versteht man unter Lehrlingsausbildung etwas anderes.“ Dieser Ausspruch einer OECD-Expertin gilt zumindest für die deutschsprachigen Länder Mitteleuropas nicht: Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz und in Österreich wird im wesentlichen dasselbe verwirklicht: Praktische Ausbildung im Betrieb, ergänzt durch fachlich-theoretische Unterweisung in der Berufsschule.

19451960198020002020

„In jedem Land versteht man unter Lehrlingsausbildung etwas anderes.“ Dieser Ausspruch einer OECD-Expertin gilt zumindest für die deutschsprachigen Länder Mitteleuropas nicht: Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz und in Österreich wird im wesentlichen dasselbe verwirklicht: Praktische Ausbildung im Betrieb, ergänzt durch fachlich-theoretische Unterweisung in der Berufsschule.

Werbung
Werbung
Werbung

Für alle drei Länder ist auch typisch, daß die Lehrlingsausbildung rund die Hälfte aller Jugendlichen nach Absolvierung der Schulpflicht, umfaßt und man von einer traditionell hohen Ausbildungsbereitschaft der Betriebe sprechen kann. Interessanterweise hat sich das auch während der Expansion der Schulbildung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nicht wesentlich verändert; ja in den letzten Jahren kann man geradezu von einer Renaissance der Lehrlingsausbildung sprechen, die einerseits wohl auf starke Geburtenjahrgänge, anderseits aber auch auf eine gewisse Ernüchterung gegenüber den Entwicklungen im Schulbereich zurückgehen dürfte.

Es muß also schon etwas daran sein an diesem für Jugendliche in unserem Bildungswesen einzigartig dastehenden Ausbildungssystem, in dem ja nicht die Schule, sondern der Betrieb hauptsächlicher Träger der Ausbildung ist. Nur in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas war es möglich, eine traditionell hohe Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft zu erhalten, die auch in Krisenzeiten nicht nachläßt, sondern - wie die letzten Entwicklungen gezeigt haben - sogar noch zunimmt. Den Bedarf an einem solchen praxisnahen Ausbildungssystem umschreibt ein „unverdächtiger Zeuge“, der Regierungsbericht Norwegens an die OECD über Berufsausbildung, deutlich: „Es gibt Anzeichen, daß das stärkere Interesse an der Lehrlingsausbildung einerseits auf äußere Faktoren, wie steigende Jugendarbeitslosigkeit, anderseits aber auch auf Faktoren, die dem Bildungssystem immanent sind, zurückzuführen ist, insbesondere auf den Umstand, daß einige Jugendliche nach neun Pflichtschuljahren schulmüde sind. Eine besonders große Zahl von Experten hat dargelegt, daß die Lehrlingsausbildung den Ubergang von der Schule zum Arbeitsleben für viele erleichtern würde. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Lehrlingsausbildung als System eine Alternative zur Schule in der Weise bildet, daß sie ebenfalls die soziale Reife fördert, weil das Training junger Menschen sowohl den Bedürfnissen des einzelnen als auch der Gesellschaft entspricht.“

Wir wird sieh dieses System, das noch dazu immer in einem Wettstreit mit der Schule steht, in Zukunft entwickeln? Einiges kann man aus der bisherigen Entwicklung und den Erfahrungen unserer Nachbarstaaten prognostizieren:

Sicherlich wird das Prinzip des „On-the-Job-Training“ Jugendlicher auch in einer Zeit weiterer technologischer Entwicklungen seine Berechtigung behalten, um so mehr, als ja eine technisch-wissenschaftliche Hochqualifizierung nicht für alle Berufe gleichermaßen zutrifft und insbesondere der Dienstleistungs-Sektor auch weiterhin viele gut ausgebüdete Berufstätige brauchen wird, die nicht so sehr intellektuelle Fähigkeiten, als vor allem praktisch anwendungsorientier-tes Können besitzen.

Zweitens wird sich die zahlenmäßige Entwicklung der Lehrlingsausbildung rasch wandeln: Der Eintritt schwacher Geburtenjahrgänge in das Bildungssystem wird auch bei gleichbleibender Neigung der Jugend zur betrieblichen Ausbildung wesentliche Auswirkungen zeitigen. Die heute Fünfzehnjährigen gehören einem der stärksten Geburtenjahrgänge an. 1963 wurden 134.809 Lebendgeborene gezählt; diejenigen, die 1990 15 Jahre alt sein werden, gehören dem Jahrgang 1975 an, der mit 93.757 Lebendgeborenen schon wesentlich schwächer ist. Allen verfügbaren Prognosen nach wird sich diese negative Entwicklung bei den Lebendgeborenen auch weiterhin fortsetzen; eine Änderung dieses Trends ist nicht absehbar. Das bedeutet, daß weniger Jugendlichen eine größere Anzahl an Lehrberufen gegenüberstehen wird, daß sich ihre Auswahlmöglichkeiten erhöhen und daher jene Berufe, die aus verschiedenen Gründen (Arbeitszeit, schmutzige Arbeit, geringere Entlohnung oder geringere Aufstiegschancen) unattraktiv sind, schon sehr bald über große Nachwuchsprobleme klagen werden.

In diesem angedeuteten Rahmen wird sich die österreichische Lehrlingsausbildung - deren gesetzliche Grundlage, das Berufsausbildungsgesetz, erst heuer grundlegend novelliert wurde - in den nächsten Jahren bewegen: Sie hat gute Entwicklungschancen, weil der Bedarf der Wirtschaft an praxisnah ausgebüdeten Kräften -ganz allgemein gesprochen - sicherlich nicht zurückgeht; das könnte aber für einzelne Berufe, bei denen wir Prozesse einer „Dequalifizierung“ feststellen müssen, oder für solche, bei denen eine starke „Verintellektualisierung“ vermutet werden kann, unterschiedlich sein.

Anderseits soll abschließend auch noch auf eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Lehrlingsausbildung aufmerksam gemacht werden, die aus der schulischen „Overeducation“ der letzten Zeit herrührt und die in einen Verdrängungseffekt schulisch Hochqualifizierter gegenüber praktisch Ausgebüdeten im Betrieb münden könnte. Dieser Verdrängungseffekt beispielsweise von Maturanten und Fachschülern gegenüber absolvierten Lehrlingen kann in der Bundesrepublik Deutschland bereits festgestellt werden; insbesondere könnte das Probleme für den beruflichen Aufstieg junger Facharbeiter und damit die Attraktivität der Lehrlingsausbildung bewirken. Hier wird es vor allem an den Betrieben selbst liegen, inwieweit sie ihr „eigenes“ Ausbüdungssystem gegenüber solchen Entwicklungen absichern und in ihrer Personalpolitik darauf Bedacht nehmen. Nur wenn das Bekenntnis der Betriebe zur Lehrlingsausbildung, das sich so eindrucksvoll in den steigenden Aufnahmezahlen der letzten Jahre gezeigt hat, auch vor diesen Realitäten nicht zurückweicht, kann die oben angedeutete optimistische Prognose über Lehrlingsausbildung im Wandel, ihre Bewährung und Attraktivität in den kommenden Jahrzehnten aufrechterhalten werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung