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Amerika ist nicht nur Vorbild

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Die Unruhen und Ausschreitungen in Los Angeles und anderen amerikanischen Städten im Anschluß an einen empörenden Freispruch von Prügelpolizisten werfen nicht nur auf die amerikanische Justiz, deren barbarischer Charakter auch durch die steigende Zahl von Hinrichtungen unterstrichen wird, ein schlechtes Licht, sondern auch auf die sozialen Zustände und das Verhältnis der Rassen in God's own country insgesamt.

Die Explosion der Massenwut, die uns Österreicher an das historische Beispiel des 15. Juli 1927 gemahnte, hat ihre Wurzeln in tiefsitzenden Übeln der amerikanischen Gesellschaft, das ungerechte Urteil der Geschworenen spielte demgegenüber nur die Rolle eines Auslösers. Die amerikanischen Bischöfe haben die sozialen Zustände und Ungerechtigkeiten der Zweidrittelgesellschaft, die in den USA herrscht, schon wiederholt gegeißelt und nach Abhilfe gerufen.

Die Vereinigten Staaten sind ein Beispiel dafür, daß die reine oder weitgehende Durchführung der ökonomischen Gedanken eines Friedrich von Hayek und eines Milton Friedman, die totale Staatsabstinenz predigen, zu inhumanen Konsequenzen führt, über die man nicht zur Tagesordnung hinweggehen und die man nicht mit einem bloßen Achselzucken quittieren darf, wenn man sich für seine Mitmenschen verantwortlich fühlt. Der American way of life ist auch in seiner ethischen beziehungsweise unethischen Grundhaltung des praktischen Materialismus und der Vergötzung des Geldes und des Erfolges kein Vorbild für uns. Die Verdrängung des Todes und des Leides in der amerikanischen Zivilisation lassen die vordergründig starken religiösen Kräfte und Berufungen auf Gott fragwürdig erscheinen. Insgesamt also kein Grund, uns am Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ein Beispiel und Maß zu nehmen.

Freilich wäre es auf der anderen Seite falsch, vor den großen Leistungen und Errungenschaften Amerikas die Augen zu verschließen und ihm hiefür Anerkennung und Bewunderung zu versagen. Als Europäer und im besonderen als Österreicher haben wir allen Grund, den Amerikanern für die Nachkriegshilfe dankbar zu sein und nicht in einen billigen Antiamerikanismus zu verfallen, in dem sich die Linke allzulange gefallen hat. Aber auch der Dank gegenüber einem Lebensretter verpflichtet einen nicht, ihm kritiklos gegenüberzustehen oder ihn wider besseres Wissen nachzuahmen.

Die beste Form der positiven Revanche für die empfangenen Wohltaten ist, daß wir Amerika und Rußland, die Friedrich Heer einmal als „entlaufene Söhne und Töchter" Europas bezeichnet hat, Impulse europäischer Geistigkeit zuführen und diesen Kulturen Dimensionen erschließen, die ihnen fehlen. Europa hat keinen Anspruch auf geistige Monopolisierung, aber es hat noch weniger Grund, sein Licht unter den Scheffel zu stellen.

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