6995000-1987_06_07.jpg
Digital In Arbeit

Amerikas Zsupäns

19451960198020002020

„Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fach gewesen“, singt sorglos Schweinezüchter Zsupän in der Operette „Der Zigeunerbaron“. Für Millionen Amerikaner ist das aber ein Problem.

19451960198020002020

„Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fach gewesen“, singt sorglos Schweinezüchter Zsupän in der Operette „Der Zigeunerbaron“. Für Millionen Amerikaner ist das aber ein Problem.

Werbung
Werbung
Werbung

Als Ursache für den so weit verbreiteten, aber zahlenmäßig nicht erfaßbaren Analphabetismus in den USA — die Schätzungen schwanken zwischen 17 und 27 Millionen Voll- und weiteren 35 Millionen Teil-Analphabeten -kann man mehrere Fakten aufzählen; nämlich vor allem die sehr heterogene Bevölkerungsstruktur, den enormen Zustrom von Flüchtlingen, Gastarbeitern und illegalen Einwanderern aus Mittel- und Südamerika und der Karibik, den exzessiven Fernsehkonsum, die nach unten tendierende Nivellierung in den Volksund Mittelschulen der USA und

den nicht durchdachten Einsatz von Computern im Unterricht.

So zutreffend aber diese Argumente auch sein mögen, so wenig sind sie geeignet, das Phänomen des Analphabetismus erschöpfend zu erklären.

Das Problem beginnt schon bei der Definition: Was ist Analphabetismus? Professor David Har-man von der Columbia University meint, daß das Phänomen so komplex ist, daß es sich einer Definition überhaupt entzieht. Er argumentiert so:

Es gibt eine Unzahl von Graden beziehungsweise Abstufungen hinsichtlich der Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben. Die Abstufung ist engstens verknüpft mit der gesellschaftlichen und beruflichen Stellung. Es sollte daher auch mit Zahlen hinsichtlich der Verbreitung des Analphabetismus sehr vorsichtig umgegangen werden. Die Fachleute sind sich nicht einmal darüber einig, ob die Zahl der Analphabeten im Steigen begriffen ist oder ob dieses Problem nicht etwa durch die erhöhten Anforderungen - bedingt durch eine hochtechnisierte Arbeitswelt — nur offenkundiger und exponierter geworden ist.

Harold McGraw, Verleger und Präsident des Council for Effecti-ve Literarcy, führt noch eine weitere Ursache an: Von den rund vier Millionen Firmen, die es in den USA gibt, verfügt heute kaum noch eine über ein organisiertes Lehrlings-Ausbildungswesen: „Dieses Versäumnis rächt sich jetzt in den Betrieben, denn es ist an der Tagesordnung, daß ein Arbeiter eine Anleitung für einen Arbeitsvorgang oder eine Blau-Pause nicht lesen kann.“

Obwohl es bereits mehrere Vereinigungen und Organisationen gibt, die sich dieses Problems annehmen, ist es gar nicht so leicht, auf die Frage, was geschehen sollte, um den Analphabetismus einzuschränken, eine klare und vor

allem wirksame Antwort zu finden. Außer den wohl kaum sehr originellen Ideen, nämlich Reformen im Erziehungswesen anzugehen und mehr Budgetmittel für Erwachsene bereitzustellen, herrscht mehr oder weniger Ratlosigkeit, wo man ansetzen müßte.

Daß die Medien auf die katastrophalen Ausmaße des Analphabetismus aufmerksam wurden, ist vor allem einem Mann zu verdanken, nämlich Jonathan Kozol, der in seinem bei Double Day, New York, erschienenen Buch „Illiterate America“ Alarm schlägt.

Kozol befaßt sich nicht nur mit den Ursachen und der Verbreitung dieses gigantischen sozio-ökonomischen Problems, er versucht auch, Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Nach seiner Ansicht gibt es nur zwei Möglichkeiten für eine radikale Abhilfe. Entweder ein massives Regierungsprogramm oder Selbsthilfe der Bevölkerung.

Nicht ohne Ironie verweist er auf Nikaragua und auf Kuba, die den Analphabetismus weitgehend zum Verschwinden gebracht haben, und empfiehlt, sich an diesen Ländern ein Beispiel zu nehmen. Man müsse aber in den USA eine ganze Armee von Helfern mobilisieren, bestehend aus Pensionisten, Studenten, Lehrern und anderen Freiwilligen, um ähnliches zu erreichen.

Anläßlich des jährlich stattfindenden Kongresses der American Booksellers Association hielt Kozol einen Vortrag, der sich vielmehr als ein leidenschaftlicher Appell als eine der konventionellen Reden anhörte: „Sechzig Millionen Amerikaner, also ein Drittel aller Erwachsenen, können weder eine Zeitung, noch ein Buch, ein Formular, einen Mietvertrag, eine Straßenkarte, eine Gebrauchsanweisung oder die Bibel lesen! 22 Prozent können keinen Scheck ausstellen und kein Kuvert adressieren! — Unter den

45 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, die keine Tageszeitung lesen, sind nur zehn Prozent, die sie nicht lesen wollen und 35 Prozent, die sie nicht lesen können! Vier von zehn Bostonern können den .Boston Globe' und vier von zehn New Yorkern können die ,New York Times* nicht lesen!“

Im Zuge seines Vortrages nahm Kozol auch- die Zustände in der Armee aufs Korn: „40 Prozent aller Rekruten haben ein Schreibund Leseniveau, das der Unterstufe der Mittelschule entspricht! Dementsprechend sehen die Instruktionen beim Militär aus: So wird zum Beispiel in einer Art .Comic book', also anhand von Abbildungen erklärt, wie man die Kühlerhaube eines Jeeps öffnet ... 60 Prozent der Gefängnis-Insassen und 85 Prozent der Jugendlichen, die vor ein Gericht kommen, können nicht lesen..

Enormer Schaden

Der materielle Schaden, den die Volkswirtschaft durch den Analphabetismus erleidet, wird auf 120 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt, wovon der größte Teil auf ein verringertes Sozialprodukt entfällt.

So erschreckend und bedrük-kend diese statistischen Daten auch sein mögen, viel mehr noch gehen Einzelschicksale unter die Haut. Wie zum Beispiel das jenes Mannes, der einen Autounfall hatte, vom Unfallort die Polizei anruft, die bereit ist, sofort zu kommen, der ihr aber nicht erklären kann, wo er sich befindet, da er die Straßenschilder nicht zu lesen vermag.

Professor Lester Thurow, Ordinarius für Nationalökonomie am renommierten Massachusetts Institute of Technology, weist auf die enormen sozialen und ökonomischen Implikationen dieses Phänomens hin: „Der Analphabetismus ist keineswegs nur das Problem eines bestimmten Personenkreises, sondern er betrifft uns alle: Er drückt die Produktivität und damit den Lebensstandard aller hinunter. Er ist somit nicht nur ein soziales, sondern auch ein eminent ökonomisches Problem. Der Schaden, den er der Volkswirtschaft zufügt, ist doppelt so groß wie derjenige, den der Konsum von Rauschgift verursacht“.

In Europa sollte man nicht mit Schadenfreude auf diese höchst bedenkliche Entwicklung jenseits des Atlantiks reagieren, sondern sie vielmehr als Warnung verstehen, daß ein ähnlicher Trend auch bei uns einsetzen könnte.

Der Autor ist Leiter der Repräsentanz der Genossenschaftlichen Zentralbank in New

York.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung