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Ami-Streit um die Nazi

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Vierzig Jahre nach Kriegsende haben die westlichen Siegermächte ihre Archive geöffnet. Eine US-Dokumente-Sammlung gibt Einblick in politische (Fehl-)Beurteilungen.

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Vierzig Jahre nach Kriegsende haben die westlichen Siegermächte ihre Archive geöffnet. Eine US-Dokumente-Sammlung gibt Einblick in politische (Fehl-)Beurteilungen.

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Oliver Rathkolb ist einer der engagiertesten österreichischen Zeithistoriker der jüngeren Generation. Er hat in der letzten Zeit mit einer Reihe von Publikationen auf sich aufmerksam gemacht, unter anderem mit der Herausgabe eines Bandes von Berichten des amerikanischen Geheimdienstes „OSS“ („Office of Strategie Services“), der Vorläuferorganisation der besser bekannten CIA-Central Intelligence Agency. Darin wird die Situation von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik am Beginn der Zweiten Republik geschildert.

Wer weiß, mit welcher Materialfülle sich der Historiker im Nationalarchiv in Washington konfrontiert sieht und mit welchem

Kostenaufwand ein solcher Archivbesuch verbunden ist, der schätzt eine Edition wie die vorliegende um so mehr.

Schon im Jahre 1943 stellten die Amerikaner eine kleine Gruppe von Mitteleuropaexperten zusammen, die zu einem guten Teil von den Universitäten kamen, unter ihnen Historiker und Sozialwissenschafter, die zum Teü schon vor dem 2. Weltkrieg im deutschsprachigen Raum als junge Forscher tätig waren, aber auch Emigranten mit ausgezeichneten Kenntnissen der österreichischen Verhältnisse. Sie sollten Vorarbeiten für eine mögliche Besetzung Österreichs leisten.

Ende Mai 1945 betraten sie dann den Boden des „befreiten“ Österreich. Sofort gingen sie an ihre Aufgabe, detaillierte Untersuchungen („Research & Analysis Reports“) über die Verhältnisse in Österreich anzufertigen, die die Entscheidungsfindung in Washington erleichtern sollten.

Einige Berichte kamen sogar auf den Tisch von Präsident Harry S. Truman. Zumindest im Fall der Anerkennung der Provisorischen Regierung Karl Renner, glaubt Rathkolb, haben die Reports die letzten Zweifel in Washington beseitigt.

Der Herausgeber ordnete die Dokumente zu sieben Themenkreisen, die jeweils mit einer Einführung und einem Literaturverzeichnis versehen sind. Im ersten Abschnitt findet man Quellen zu Themen wie etwa dem Wiederbeginn des politischen Lebens, der Renner-Regierung oder den Parteigründungen.

Im zweiten Abschnitt schildern die Dokumente die Anfänge in der amerikanischen, sowjetischen und französischen Besatzungszone. Der Herausgeber unternimmt hier den Versuch einer „zonenorientierten Wirkungsgeschichte“.

Die rund 140 Dokumente beschäftigen sich aber in erster Linie mit drei Schwerpunktbereichen:

• Am Neubeginn des politischen Lebens und der politischen Institutionen standen die Österreicher unter der Befehlsgewalt der Besatzungsmächte. Die Politiker beklagten sich wiederholt darüber, daß sie die Verantwortung, aber keinerlei Macht hätten.

Die kritischen Berichte von Paul Sweet und Edgar Johnson über diese politische Bevormundung und die mangelnde Entnazifizierung erregten bei ihren Vorgesetzten Entrüstung. Sie bekamen sogar für ein paar Tage Interviewverbot (offensichtlich gab es innerhalb der amerikanischen Besatzer große Auffassungsunterschiede in der Frage, wie Österreich „demokratisiert“ werden sollte).

• Die Normalisierung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens: zum Beispiel stellte sich die Fra-

ge, was mit Hitlers Kriegsindustrie passieren soll. • Das wohl meistdiskutierte Thema im damaligen Österreich: Wie gründlich soll entnazifiziert werden?

In Oberösterreich wurde bis in den Herbst 1945 hinein jede Parteitätigkeit untersagt. Die Amerikaner bestimmten autoritär, wer am politischen Leben teilnehmen durfte. Dabei wurden nach Meinung der lokalen Bevölkerung und der Widerstandskämpfer die alten „Nazis“ oft in ihren alten Führungspositionen belassen.

Allerdings war es oft auch schwer zu eruieren, wer nun ein echter „Widerständler“ gewesen ist und wer nicht. Sieben Jahre Hitler-Faschismus (und - wie die Roosevelt-„New Dealers“, die der europäischen Sozialdemokratie nahestehenden Sweet und Johnson meinten — vier Jahre Austro-faschismus) hatten sich eben zu tief in das österreichische Volk eingefressen, um noch klare Definitionen von Gut und Böse zu ermöglichen.

Auch innerhalb der Amerikaner gab es unterschiedliche Auffassungen. Während Sweet und Johnson mit ihren Vorgesetzten für eine radikale Entnazifizierung plädierten, nahm die amerikanische Militärregierung diese zu wenig ernst, wie so mancher amerikanische wie österreichische Kritiker damals meinte. Ein Widerstandskämpfer formulierte es so: .Amerikaner mit Einfluß haben kein Verständnis; Amerikaner mit Verständnis haben keinen Einfluß.“

Neben diesen größeren Themenkomplexen bieten die Dokumente des Rathkolb-Buches eine Fülle interessanter Details zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Da gibt es genaue Statistiken über die Stahl- und Eisenerzeugung der Linzer „Reichswerke Hermann Göring“, aber auch Zahlen über die Rohmaterialien, die zu Kriegsende in Osterreich noch vorhanden waren.

Auch die Demontage von ganzen Industrieanlagen durch die

Russen kommt in den Dokumenten wiederholt zur Sprache. Selbst über das Auftreten von Geschlechtskrankheiten und Prostitution finden sich Zahlen. Insofern sind diese Dokumente für die oft chaotische und vor allem statistikarme Zeit unmittelbar nach Kriegsende von großer Bedeutung.

Es fällt aber auch auf, daß der „New Dealer“ Sweet—er ist Autor oder zumindest Mitautor von rund 60 der insgesamt 140 Dokumente — die Informationen der ihm näherstehenden Sozialisten unkommentiert übernahm, während er etwa dem Historiker Hugo Hantsch nicht so leicht glauben wollte (Sweet bezeichnete Hantsch als „schrecklichen - „aw-ful“ - Reaktionär“).

Hantsch, der in Ravelsbach außerhalb von Wien den Einmarsch der Roten Armee erlebt hatte, beklagte sich bei den Amerikanern über die wüsten Ausschreitungen der Sowjet-Armee. Sweet meinte dazu, Österreicher wie Hantsch wollten nur Zwietracht zwischen Amerikanern und Russen säen.

Es überrascht, daß Sweet nicht der einzige OSS-Mann war, der die sowjetische Besetzung Ostösterreichs verharmloste. Wer die britischen Dokumente aus dem Jahre 1945 kennt, der weiß, daß die Briten der sowjetischen Tätigkeit mit viel mehr Mißtrauen gegenüberstanden. Sie erkannten eher, was die Sowjets in Osteuropa nach ihrem Einmarsch getan hatten, und zögerten schon deshalb so lange mit der Anerkennung der Renner-Regierung.

Die Briten waren dann auch nicht so sehr von der viel härteren Gangart der Sowjets im Jahr 1946

überrascht, nachdem die österreichischen Wähler den Kommunisten eine unerwartet klare Abfuhr erteüt hatten. Daraufhin sahen sich auch die Amerikaner zu einer Kehrtwendung gezwungen, die in den sogenannten Kalten Krieg überging. Zu der Zeit waren aber die jungen OSS-Intallektuellen bereits wieder daheim an ihren Universitäten.

Und hier steht auch Rathkolb als Herausgeber den amerikanischen Beobachtern zu unkritisch gegenüber. So einfach wie Sweet und seine Kollegen die Regierung Renner, die Entnazifizierung oder die „nicht-geplante“ Sowjetisie-rung (Ost)österreichs einschätzten, lagen die Dinge dann doch nicht ganz.

Der Autor ist Historiker und arbeitete zuletzt in amerikanischen, britischen, französischen und deutschen Archiven.

GESELLSCHAFT UND POLITIK AM BEGINN DER ZWEITEN REPUBLIK. Vertrauliche Berichte der US-Militäradministration aus Österreich 1945. In englischer Originalfassung. Von Oliver Rathkolb (Hrsg.). Bühlau Verlag, Wien-Köln-Graz 1985.435 Seiten, kart-, öS 696f-.

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