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Amoralisch - zynisch

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Es ist ein Zeichen der Zeit, daß Bedenken und Kritiken gegen die Politik des amerikanischen Außenministers Kissinger auch in Ländern laut werden, die bisher als bedingungslose Parteigänger der Vereinigten Staaten bekannt waren. Während der neue Staatspräsident Frankreichs die Beziehungen zu Amerika deutlich „entdramatisiert“ hat, bemächtigt sich Englands, Israels und anderer Länder Unbehagen und Skepsis.

Von der moralischen und innenpolitischen Krise, in der sich die Administration Nixon befindet, abgesehen, geriet auch der einzige bisher unbestrittene Mitarbeiter des Präsidenten in das Kreuzfeuer der Kritik.

Kissinger ging von der Vorstellung aus, daß die Welt multipolar geworden sei und mehrere machtpolitische Zentren aufweise; neben Amerika und der Sowjetunion seien China, Japan und Westeuropa solche Machtzentren. In einem gewissen Gegensatz zu der Richtigkeit dieser Feststellung stand aber die absolute Priorität, die der Außenminister den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen einräumte. Dadurch gerieten die Beziehungen Washingtons sowohl zu Westeuropa als auch zu Japan und China in Schwierigkeiten.

Die ziemlich arrogante Art, in der Kissinger wiederholt seine europäischen Verbündeten zur Ordnung rief und sie daran hindern wollte, im Rahmen ihrer Gemeinschaftsinstitutionen Beschlüsse ohne vorherige Genehmigung der amerikanischen Regierung zu fassen, hat in den Hauptstädten Europas verstimmt. Zwar trifft es zu, daß die Aufrechterhaltung des europäischen Status quo unter der gemeinsamen Garantie der Amerikaner und Russen seit 1945 der Aufrechterhaltung des Friedenszustandes gedient hat. Aber die Londoner „Times“ wies mit Recht darauf hin, daß Kissinger die Haltung Westeuropas an der europäischen Sicherheitskonferenz mißbilligt: „Er ist besonders skeptisch“, schreibt die große Londoner Zeitung, „gegenüber westlichen Versuchen, über interne Fragen der War-schauer-PakMVtächte zu verhandeln, wie Bewegungs- und Informationsfreiheit. Die Europäer anderseits glauben, daß die Entspannung in Europa eine menschliche Dimension haben muß. Und viele meinen auch, daß die westliche Welt nicht die sowjetische Besetzung Osteuropas gütheißen darf, ohne sich bis zu einem gewissen Grad um die Menschenrechte in diesem Gebiet zu kümmern...“

Man muß auf Kissingers Doktordissertation zurückgreifen, die übrigens ein interessanter historischer Kommentar zu Metternichs Restaurationspolitik ist, um zu verstellen, daß für den heutigen amerikanischen Außenminister politische Ideen und moralische Gebote in der Außenpolitik bloß Störfaktoren sind. Nach seiner Auffassung müssen die zwischenstaatlichen Beziehungen ausschließlich nach machtpolitischen Gesichtspunkten geordnet werden. In der Praxis hat Kissinger diese amoralische und zynische Theorie auf die Spitze getrieben, was sich jetzt zu rächen beginnt. Denn sie vernachlässigt viel zu sehr die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche.

Von Jalta über Potsdam bis heute hat sich allerdings die amerikanische Politik an die eiserne Regel gehalten, daß die Russen in ihrer mittel- und osteuropäischen Macht-späre freie Hand haben und auch gegen Emanzipationsbestrebungen dieser Völker die Ordnung in ihrer Art aufrechterhalten sollen.

Kissinger hat bekanntlich viel Wasser in seinen Wein gießen müssen, ehe seine europäischen NATO-Verbündeten bereit waren, die von ihm zu Ostern 1973 vorgelegte Deklaration zu unterzeichnen; in ihrer endgültigen Fassung ist diese Deklaration so belanglos, daß es nicht des Konfliktes zwischen Griechenland und der Türkei bedurft hätte, um zu beweisen, daß die Vormundschaft der Vereinigten Staaten über Westeuropa nur mit Vorbehalten geduldet wird. Ob die Westeuropäer sich schließlich dem Zwang der beiden Supermächte beugen und an der europäischen Sicherheitskonferenz ihren Wunsch, daß mit der Entspannung zwischen West und Ost auch ein wenig mehr freie Austauschmöglichkeiten' für Informationen und Menschen verbunden sein sollten, begraben werden, wissen wir noch nicht. Sicher ist nur, daß das Amerika Nixons und Kissingers keinen großen Wert auf die Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten legt.

Das zeigte sich in vielen Fällen, wo die Vereinigten Staaten in anderen Ländern Zwangsherrschaft dem Risiko der Freiheit vorzogen. Die Friedensregelung in Vietnam ist,nur das unmenschlichste Beispiel für ein Diktat, das einem unglücklichen Volk auferlegt wurde. Das Bestreben, überall auf der Welt den Status quo aufrechtzuerhalten, um den mit Risiken verbundenen Alternativen auszuweichen, hat in letzter Zeit wiederholt dem amerikanischen Außenminister unangenehme Überraschungen beschert. Eine solche war zweifellos der Krieg zwischen Indien und Pakistan, der mit der Selbständigkeit von Bangladesch zu Ende ging.

Auch der Krieg Ägyptens und Syriens gegen Israel im Oktober des vorigen Jahres hat trotz aller Vorzeichen, die ihn ankündigten, die Administration in Washington überrascht; sie glaubte, daß Israel dank seiner Gebietserwerbungen die Araber in Schach halten könne und daß diese sich wohl oder übel mit der Lage abfinden würden. Was Kissinger seither als Vermittler zwischen den arabischen Staaten und Israel zustande gebracht hat, verdient zweifellos Anerkennung; aber indem Amerika einerseits Israel mit Geld und Waffen unterstützt und auf der anderen Seite die wirtschaftliche und technologische Entwicklung und damit auch die militärische Macht der arabischen Staaten fördert, könnte sich auf weite Sicht verhängnisvoll auswirken. Aufrüstung hat noch nie die Versöhnung und den aufrichtigen Friedenswillen gefördert.

Daß Amerika in Portugal und Griechenland die diktatorischen Regimes als die bequemste und anscheinend sicherste Lösung betrachtete und ihren Sturz ungern hinnahm, bedarf keiner weiteren Beweise. Auch in diesen Fällen ließ sich Amerika von den Ereignissen überrumpeln. Kissingers zweideutige Haltung im Zypern-Konflikt hat von England bis Israel dem Unbehagen über seine Politik neue Nahrung zugeführt. Daß das auf Zypern geschehene Unrecht neues Unrecht und Komplikationen erzeugen würde, entging seinem Urteil. Kissinger hätte auch ohne Rücksicht auf die längst fällige Befreiung Griechenlands von einer grausamen und auch wirtschaftlich ruinösen Diktatur einem Verbleiben der Militärjunta an der Macht in Athen den Vorzug gegeben. Im Ergebnis führt eine Politik, die auf die Völker und Menschen keine Rücksicht nimmt, zu Explosionen, die die Kreise der Supermächte verwirren müssen.

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