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Amy oder die Metamorphose

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Das langsam einkehrende Bewußtsein, die Augen aber noch geschlossen haben. Die Medizin! Der vergessene Gedanke eines anderen Ichs. Wozu die Medizin? Entkrampft den eigenen Herzschlägen lauschen, mit der Gewißheit neuen Sichwohlseinlassens. Das Herz, es muß ein austauschbares gewesen sein. Jetzt aber heben sich die Lider, zögernd, zaghaft, sich noch einmal schließend über dem ersten Blick, der auf einen Arm fallt. Auf einen gebräunten Arm, dessen Hand noch auf dem Nachtkästchen sucht, vielmehr nicht mehr sucht, eher ruht, ohne einen neuen Befehl empfangen zu haben.

Die Schulter nackt und von einer Glätte, an der der Träger des Nachtgewands abrutscht. Und da auch schon Haar, dunkles, zu einem dicken Zopf geflochten, eingeklemmt zwischen Hals und Schulter, verlaufend bis über der Brust. Die andere Hand noch als Faust um die Decke gespannt, Spur eines Kampfes, welchen Kampfes? Im Staunen weiten sich die Finger - der Ring: Mondstein - und da will durch all die Fremdheit Vertrautes aufsteigen, Erinnerung? Nichts. Nur der Ring und das mähliche Verblassen bläulicher Nagelmonde.

Die Beine angezogen, ein Kegel unter der Decke, straffe Haut und das Gefühl von Wärme, im gegenseitigen Aneinanderreiben, dann der unwiderstehliche Wunsch, sich zu strecken, oh, ja, und zu dehnen, um so, die Lage verändernd, besser an sich herabsehen zu können. Lackierte Zehennägel, beinah altrosa, aber ohne Sprünge, Abblätterungen.

Und sich nun ganz herumdrehen und den Oberkörper leicht anheben, daß die Brüste wieder in ihre eigentliche Form auslaufen. Keine Schwere, aber auch nicht knabenhaft schwach, sparsam im Fettgewebe. Fettgewebe? Sich fallen lassen, ganz flach hingestreckt, den Kopf neben dem Kissen, und sich sich fühlen lassen. Mit der Hand nach Narben tastend, nach Ausmaßen Und der allgemeinen Beschaffenheit’. Und immer mehr von sich Besitz ergreifen, Hautstück für Haut, Haar um Haar, sich nachgehend bis an die Zähne hinein. Und daraufhin nach den Ohren greifen, die Nase am Bettuch reiben, und wieder das Haar, der Hinterkopf, die eigene Schädelform, die Stirnwölbung, der Knochenring der Augenhöhlen, und darin die Augen, die Augen? Welche Farbe haben die Augen? Und da muß sie sofort ihre Augen sehen.

Der Spiegel über der Kommode - oval - elliptisch. Elliptisch? In einem matten Holzrahmen. Die paar Schritte dahin, an den Füßen die lichteren Spuren von Sandalen mit Mittelzehenriemen, und bereits verkrustet, die Närb- chen vom ersten Tragen zwischen den beiden größeren Zehen.

Die Farbe der Augen?

Auf der Kommode eine Schale mit Blumen, Anemonen in reinen Farben, leicht verwelkt. Doch wie die Hand sich nähert, heben die Blüten sich in spontaner Frische der Strahlung des Körpers zu. Und mit lächelndem Staunen den Versuch wiederholt, wie die Hände sich nähern, kehrt Leben in die Blüten zurück. Da aber trifft der Blick auf den Blick. Die Farbe der Augen? Blau - grau? Und nun beinah Wange an Wange mit dem Spiegelbild: blau - grau? Bei Wendung dem Licht zu mehr blau, bei Wendung dem Schatten zu mehr grau. Und darüber der schmale Bogen der Brauen, die glatte gebräunte Haut. Mund liegt auf Mund, die Scheibe beschlägt sich. Als würde dem Spiegelbild Leben eingehaucht. Leichtes Frösteln, das durch die nackten Sohlen in den Körper dringt. Suchen nach etwas für die Füße. Unter dem Bett die Sandalen mit dem Mittelzehenriemen, nicht einmal Sandalen, nur ein Stück Leder mit einem Doppelzehenriemen. Und mitten im Raum ins Stocken geraten, über die Schulter hinweg die Kommode suchen, den Spiegel. Aus dieser Entfernung mehr von sich als Ganzes wahrnehmen, bis zur Hüfte, im schräg einfallenden Licht. In gewissem Sinne Zufriedenheit, rein optisch, aber immerhin. Sich nicht vom ersten Augenblick an hassen müssen. Das Fenster. Heruntergezogene Jalousien, darüber die leichten Vorhänge, und ein Wissen, daß es noch hell ist draußen.

Auf dem Weg zum Fenster an einem Schreibtisch vorbei. Diese Schrift! Himmel, diese Schrift… Ein leises Zittern und das Heraufdrängen von Bekanntem, doch dann nichts mehr. Ein Meldezettel, ausgefüllt, unterschrieben, Dokumente… Amy Stern, geboren am soundsovielten… Amy Stern… und wieder dieses Zittern, der Griff ans Herz, aber da ist nichts mehr, was beängstigen könnte. Dem eigenen Herzschlag lauschen, erregt, aber ohne Verkrampfung. Und so geht sie ans Fenster.

Mit einemmal ist alles in Bewegung. Die Dämmerung mausgrau bis fliederfarben im Strahlungsbereich der Dächer, des dächernen Horizonts. Kein Glosen mehr wie von mittäglicher Hitze, aber dennoch sichtbar ein Flimmern, wenn auch langsamer aufsteigend und wie aushauchend in den oberen Regionen.

Und gleichzeitig das Vibrieren, ein Aufsteigen von Geräuschen, in einem wilden Rhythmus, der, je höher er steigt, desto mehr sich dehnt und in

Sequenzen zerfällt, die beinah melodisch wirken, weil fast immer an denselben Stellen verstärkt durch in Töne umschlagendes Hupen.

Das also… in endloser Reihe aufeinanderfolgende Fahrzeuge, vom Puls der Stadt in die verschiedenen Fahrrinnen gepreßt, nun ebenfalls pulsierend anstatt zu versickern, entschwindend, um immer neue Gassen zu füllen.

Und dazwischen Raum, in vielfacher Unterteilung, gefaßt in Ziegeln und Mauerwerk, in Mörtel, Holz, Beton, in zu ähnlichen Formen, Umraum, Vorraum, Hauptraum, kaum je aber Freiraum. Und so auch das Atmen, Leben, Sprechen, das Flüstern und Schreien, die Angst und die Freude, die durch alle Stockwerke emporzittern, -beben, aus den Körpern entschwinden und hinaufsteigen, verdampfen an der oberen Grenze allen Gehörtwerdens.

Mit dem Fuß, nur getrennt durch etwas Mauerwerk, auf dem Kopf eines anderen, vieler anderer stehen. Wenn die Tasse, die fallt, sich ein Loch schlüge, bis hinunter zur etwas härteren

Haut der Erde, wie viele erstaunte, bestürzte Augen durch den so entstandenen Schacht emporglimmen würden?

Das also… die Stadt und ihre Bewegung, die Stadt und ihr Raum, die Stadt und ihre Leute. Wie zum erstenmal. So wie wenn der Blick mit einemmal durch neue Augen fällt. Auf ein Stück gebräunten Arm, ruhend auf einem Fensterbrett und dann abstürzend, auf eilende Punkte, Flächen, Körper hin. Der Schacht. Der Straßenschacht, dann wieder emporklimmend, an den Zeilen der Fenster, der fingierten und echten Balkone, der Mauervorsprünge, Erker, von der grauschwarzen Patina, die mit der Luft emporsteigt, überzogen mit derselben grauschwarzen Patina, die mit der Luft in die Leiber steigt, sich festsetzt und nur langsam wieder ausgehustet wird.

Amy Stern… noch im Entstehen begriffen, hängend zwischen Himmel und Erde, ungewiß in der neuen Zusammensetzung. Verlöscht und wieder entzündet von einem anderen Ich und niemand kann sagen, wie die Eigenschaften, die Bahnen der Gedanken, die Bereitschaft zu bestimmten Gefühlen sich mischen werden.

Amy Stern… so als müsse der Mund sich halblaut seiner Zugehörigkeit, seiner Identität versichern.

Amy Stern…, geboren am…, wohnhaft in…, Beruf… Beruf? Die Schritte führen im Zimmer umher. Bücher. Schreibmaterial. An einem Kleiderhaken übereinander zwei weiße Mäntel in verschiedenen Ver- schmutztheitsgraden, ein Anatomie-Atlas. Studentin? Studentin. Doch jetzt im Sommer?

Zurück zum Bett. Sich ein wenig hinsetzen. Uber dem Stuhl ein schwarzer Popelinrock, ein weißer Pullover und eine kleine weiße Schürze, hastig hingeworfen, so als wollte sich jemand nur gerade noch die Kleider vom Leib ziehen, bevor es losging … losging… was losging? Und wieder der Griff in die Herzgegend, nur daß da nichts ist, was beunruhigt hätte.

Und beinah gleichzeitig eine unendlich vertraute Empfindung mit dem Sitz etwas tiefer als das Herz, deutlich und immer fordernder: Hunger.

Die angelehnte Tür ist die Tür zur Küche. Eine der Kacheln ist locker, gibt nach unter dem Tritt, klafft als Spalt auseinander, weiß, mit kleinen blauen Rhomben an den Klebestellen. Der Tisch blau gestrichen, dick mit Farbe und darüber weißes Wachstuch, so gelegt, daß die Ecken des Tisches sichtbar bleiben. Kein Herd, nur ein Propangasbrenner mit zwei Kochstellen auf einem alten weißen Tischchen. Ein Kühlschrank, darin etwas Butter, harte Wurst, Eier, Paradeiser und grüne Paprikaschoten, gerade genug für einen Imbiß, und dann noch, in Papier gewickelt, Teile eines gegrillten Huhns, wie sie in Restaurants übrigbleiben, aber bereits dermaßen unansehnlich, daß der Appetit verstummt. Eine Kredenz, blau wie der Tisch, mit gemustertem Papier ausgelegt und darin notdürftig Geschirr, ein paar Teller und Tassen aus verschiedenen Zusammenhängen gerissen. Würfelzucker in einem alten Marmeladeglas mit Schraubverschluß und eine Dose - originalverpackt - mit Pulverkaffee.

Auch hier das Fenster verhängt, gegen Blicke oder das Blenden der Sonne. Ein vergilbtes Rollo mit einem Wasserfleck, der in bizarren Rändern ausläuft. Und das erste Erschrecken, als das Rollo nach dem Ziehen an der Schnur blitzschnell zusammenfahrt, sogar noch rotiert, so daß die Schnur aus den überraschten Fingern gleitet und mit dem Knauf gegen das Fensterglas schlägt Das Herz aber hält dem Erschrecken stand, schlägt nur ein wenig schneller, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, und der mechanische Griff an die Brust erfolgt noch, aber schon wesentlich langsamer, wie um sich zu vergewissern, ob er noch vonnöten sei.

Das Fenster geht in den Innenhof in geraumer Entfernung auf eine andere, wahrscheinlich ähnliche Küche zu, in der ebenfalls jemand sitzt, bei geöffnetem Rollo, und essend herüberschaut, ein Mann, ohne Hemd, aus der Flasche trinkend. Und wie er die Flasche wieder absetzt, erblickt er sie, lächelt und macht dann mit der Hand ein Zeichen, das in seiner Eindeutigkeit durch all ihre Wandlungen hindurchdringt und blitzschnell als das verstanden wird, als das es gemeint ist. Der Träger ihres Nachthemds ist herabgerutscht und sie zieht an Stelle des Rollos die dünnen Vorhänge vor, die das Licht einlassen, nicht aber den Blick. Die Finger sind geschickt im Entzünden der Gasflamme. Ein paar Eier mit einem Löffel Butter. Der Hunger als solcher nur noch angewachsen, möchte so rasch wie möglich gestillt werden.

Aber auch der Durst. Auf der Kredenz steht eine Flasche mit Mineralwasser, bereits geöffnet und ungekühlt. Dennoch läßt sich der Durst damit stillen, zumindest fürs erste.

Amy Stern ißt. Nimmt etwas zu sich. Ernährt sich. Setzt sich zusammen.

Dieses offensichtliche Moment der Personsbildung läßt sie mit einemmal lächeln. Am liebsten würde sie noch ein paar Eier in die Pfanne schlagen. Dann aber tun es auch die Paradeiser, die grünen Paprika, die paar Scheiben Brot und die Hoffnung, vielleicht später noch Fleisch zu essen, Gemüse, was auch immer, Ausgiebiges, das „eine Grundlage schafft“.

Kaffee! Kaffee? Sie öffnet das originalverpackte Glas - koffeinfrei. Etwas wehrt sich dagegen. Wieso koffeinfrei? Kosten, aufgießen mit heißem Wasser, noch einmal kosten, Verwirrung. Nach einer halben Tasse der Wunsch, wirklichen, richtigen Kaffee zu trinken. Irgendwo draußen, umgeben von vielen Menschen.

Sich anziehen, ja, sich anziehen. Noch kauernd, aber unschlüssig steht sie wieder im Zimmer, die hingeworfenen Kleider aufhebend, riechend an der leicht schmutzigen Schürze, die ihr wieder aus der Hand gleitet, und noch ein paar suchende Schritte. Kein Schrank? Aber dann hinter der Tür eine kleine Kammer mit Regalen und einer Kleiderstange.

Viel ist es nicht, was da hängt. Zwei Paar Jeans, Röcke, ein Kleid. Sie wählt Bluse und Rock, wenn auch ohne Ahnung, wohin es gehen soll.

Im Badezimmer, in dem es nur eine Dusche gibt, waschen, sich kämmen und an einer Flasche mit Toilettewasser riechen. Mit dem Duft will wiederum etwas Vertrautes zum Vorschein kommen, das aber nicht aus der Namenlosigkeit aufsteigen kann.

\ Eine Umhängtasche, die Schlüssel. Amy Stern verläßt ihre Wohnung, um sich anderwärts umzusehen.

Essensgeruch im Treppenhaus, der sich mischt mit einer Spur schaler Ab- gestandenheit. Von Fenster zu Fenster zieht sich die Spirale der Stufen, an Wohnungstüren vorbei, und an Eingängen zu den Baikonen des Innenhofes. Im Parterre dann die Hausmeisterwohnung, die Mülltonnen am Hofeingang, die Briefkästen und ein abgestellter Kinderwagen.

Der Schlüssel, ein ganz gewöhnlicher Schlüssel mit Bart, insofern nutzlos, befindet sich bereits in der Hand, bevor der Gedanke bewußt wird. Ein großes, lärmendes Tor, das sich öffnen und wieder schließen läßt, gleichgültig gegen die Person, wenn nur der Schlüssel sich im Schloß dreht.

Und es ist, als wäre die Luft heißer jenseits des Tores, erfüllt von Ausscheidungen in Form von Gasen und Lauten, die nur langsam in die Höhe entweichen. Da sind Worte, die sie nicht loswerden kann: Bei Einbruch der Dunkelheit… Wie eine Drohung oder doch Verheißung? Oder keines von beiden? Mahnung oder Feststellung der Zeitlichkeit? Bei Einbruch der Dunkelheit…

Und am Gehsteig entlang an schon nicht mehr so eilenden Passanten vorbei, die vom Essen kommen oder zum Essen gehen. Selbst der Verkehr scheint gegen früher hin, als sie noch am Fenster stand, abgenommen zu haben, wenn auch das gelegentliche, an verschiedenen Stellen der Straße aufkreischende Bremsgeräusch ihn präsent hält.

Die eigenen Füße beobachtend, wie sie sicher in einen beinah vorgezeichneten Schritt gleiten. Die leichte Staubschicht an der Haut um die Mittelzehenriemen, der Hauch von Feuchtigkeit, die herausgezogen von der Wärme, an der Körperoberfläche verdunstet. Leichte Kühlung, die die Bewegung des Schrittes unter den Rock weht. Das leise Schwingen der Arme im Rhythmus des Gehens. Die zwei Tropfen Schweiß, gerade so viel, um im Gehwind die Nässe in der Ach selhöhle zu spüren. Die Brüste, die der Bewegung, die von den Beinen kommt, folgen. Das Haar, nun aufgesteckt, aber dennoch in einigen dünnen Strähnen auf der Schulter tanzend. Den Mund geschlossen gegen alles, was in der Luft liegt. Durch die Nase die Atemluft filternd und sie manchmal sogleich wieder ausstoßend, so als wäre sie zu grobkörnig für den feinen Apparat. Die Augen aber…

Die Augen allein sind irritierbar und der Blick versucht nur zu registrieren, nicht zu korrespondieren. All den Dingen nicht anheimzufallen, die zur Schau gestellt in den Auslagen, Glasfenstern, Schauvitrinen immer nur eines durchs innere Ohr gellen lassen: will mich haben! So gewohnt den Füßen die Schritte, so ungewohnt scheint die Aufforderung zur Inbesitznahme den Augen, Ohren, dem Kopf. Die Sprache der Dinge, die mit tonlosen Schreien einander überbietend ihre Oberflächen zeigen. Und diese Sprache dringt ein, weil da Sinne sind, die an ihr noch nicht stumpf wurden. Die Menschen aber strömen aneinander vorbei, blicklos in den meisten Fällen, jedoch wenn ein Blick einen anderen streift, spricht auch er diese Sprache, wenn auch mit anderem Pronomen: ich will dich haben! Und die Wärme des Abends. Die nach Dienstschluß befreiten Sehnsüchte gehen auf ihre gierige Reise, gesenkt in den Blick, der im Gehen entkleidet, umarmt, in Besitz nimmt und doch schon nicht mehr beleidigt in all seiner Sachlichkeit. Uber den Abgasen, dem Gestank und den Düften liegt immer deutlicher eine Art B runftgeruch, kaum isolierbar aus jenem Bündel von Gerüchen, die die Luft eines Sommerabends inmitten einer Stadt ausmachen, dennoch unabweisbar, sich manchmal verdichtend an Autobushaltestellen zum Beispiel, wenn die automatischen Türen sich mit jenem obszönen Geräusch öffnen und Atmosphäre und Menschen ausstoßen, dann wieder dünner werdend, überlagert vom Aroma einer Garküche, aber selbst da in Spuren noch vorhanden.

Die Beobachtung zeigt, daß die Bewegungen sparsam sind, ökonomisch. Als ginge es darum, nichts an Energie üngenötigt zu verausgaben, als käme es unmittelbar darauf an, bestens zu haushalten mit sich selber. DerGriff in die Herzgegend unterbleibt nun schon, doch den Beinen ist es sichtlich ungewohnt, sich so rasch zu bewegen.

Verfallend in eine alte, unbekannte Route, drängt sich der Wunsch auf, das Gehen immer mehr zu beschleunigen. Der Wunsch wird zum Befehl, gleichzeitig aber geht es über die Straße, und da überschichtet der Befehl in seinem übermäßigen Anspruch die übrigen Sinne, blindlings und taub…

Dann fällt alles zusammen. Das große Geräusch, das Kreischen, ein Schrei, ihr Schrei, der Griff am Arm, das Geschleudertwerden, der Fall, das Aufschlagen am Asphalt, ohne große Wucht, eher schon gleitend, das Wiederhochkommen. Und plötzlich eine Reihe von Gesichtern im Halbkreis, das Weiterfahren eines schimpfenden Autofahrers, gedrängt von Hupen in verschiedenen Tönen. Die vermeintliche Atemnot und nun doch wieder das Tasten nach dem Herzen, und selbst jetzt kaum erforderlich, obwohl der Herzschlag deutlich zu spüren ist.

Langsam nur lockert sich der Griff, schüttelt sie erst noch, wie um zu prüfen, ob alles ganz ist. Und die Stimme eines Mannes: Fräulein, die Augen aufmachen! Nicht unfreundlich, und nun auch noch die Schulter klopfend: Ist nichts passiert! Und eine andere Stimme im Vorübergehen: Glück muß man haben, dann kann man die Augen ruhig zulassen.

Erst dann kommt die Sprache wieder. Ich… ich… ich muß geträumt haben. Entschuldigen Sie bitte, und danke für die Hilfe.

Der Mann nickt, salutiert beinahe, wendet sich zum Gehen: schon gut… Und wieder: Ich… ich muß … Der Mann ist gegangen, die Leute verlaufen sich. Die blutet ja gar nicht. Nichts ist geschehen, was der Rede, der Aufmerksamkeit wert wäre.

Geschehen ist, daß Amy Stern sich in ihrem Körper gefunden hat. Daß sie ihn für sich gefordert hat, als er ihr beinahe schon wieder abhanden gekommen wäre. Der Schreck muß die Teile, in die sie sich zerfallen fühlte, zusammengeschweißt haben. Der Name ist nun nicht mehr nötig, um ich zu sagen. Ich muß geträumt haben…

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