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An der Seite des Volkes

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Jerzy Popieluszko wurde ermordet, weil er sich um die konkreten Sorgen und Nöte der Menschen gekümmert hat. Aber war er deswegen auch schon ein „politisierender" Priester?

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Jerzy Popieluszko wurde ermordet, weil er sich um die konkreten Sorgen und Nöte der Menschen gekümmert hat. Aber war er deswegen auch schon ein „politisierender" Priester?

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Die St. Brigitten-Kirche in Danzig, in der Henryk Jankowski, der Beichtvater Lech Walesas wirkt: In einer Seitennische die Embleme und Fahnen der verbotenen Gewerkschaft „Solidarität", Blumen, Kränze, Kerzen. Eine eindeutig politische Wallfahrtsstätte im Schutze der Kirchenmauern.

Am Kirchplatz, der von der Miliz noch als zur Kirche gehörig respektiert wird, aber gelegentlich auch im Kirchenraum selbst, verteilen junge Männer Untergrund-

Schriften, unzensurierte Flugblätter, darunter auch die der Organisation „Kämpfende Solidarität".

Würde das in der polnischen Regimepresse stehen, hielte man es für gezielte Propaganda. Aber der Augenschein läßt keinen Zweifel aufkommen—das ist Realität.

Es ist für einen Mitteleuropäer, der sich von einer „politisierenden", parteipolitisch engagierten Kirche geistig verabschiedet hat, fast ein Schock.

Man stellt sich unwillkürlich die — falsche — Frage, wie man denn reagieren würde, fände man in seiner Kirche, in der Bundesrepublik, der Schweiz oder Österreich Abzeichen einer politischen Partei, Symbole einer verbotenen Organisation, erhielte man Flugblätter der Gewerkschaft?

Wer so fragt, muß zu falschen Antworten kommen, weil er vergleicht, was nicht vergleichbar ist: In Mittel- und Westeuropa gibt es eben eine offene, pluralistische Gesellschaft, in Polen — trotz vieler Freiräume, die in anderen sozialistischen Bruderstaaten undenkbar wären — gibt es sie eben nicht. Es ist eine letztlich autoritäre Gesellschaft, ein politisches System, das den ganzen Menschen für sich beansprucht.

Und genau deswegen gibt es eben das Phänomen der „politisierenden Priester" in Polen — wie Jerzy Popieluszko einer war, wie Walesas Beichtvater Henryk Jankowski einer ist, wie es der — inzwischen strafversetzte — Miec-zyslaw Nowak des Warschauer Arbeiter-Vorortes Ursus war, wie es weitere 66, vom Regime als „Extremisten" denunzierte Geistliche in Polen sind.

Es sind Priester, die auf Grund ihres Alters nichts anderes kennen als das „sozialistische" Regime, die alle authentischen Protestbewegungen des Volkes der letzten 40 Jahre in Volkspolen bewußt mitgemacht und miterlebt haben - und die in einer großen Tradition der polnischen Kirche stehen:

Diese Kirche im Land an der Weichsel war, als es Polen nicht auf der Landkarte gab oder nur als Marionettenstaat, Bewahrerin und Hüterin polnischer Kultur, Tradition und Sprache. Diese polnische Kirche war Hort der nationalen Identität und in den Zeiten der Unterdrückung und verlorenen Eigenstaatlichkeit niemals Annex der Macht oder Erfüllungsgehilfe der Mächtigen, sondern immer im besten Sinne des Wortes „Volkskirche".

Daran hat sich bis heute nichts geändert — auch wenn die Macht und die Mächtigen heute national-polnisch sind oder sich zumindest so gebärden. Die Kirche und der Klerus sind auf Seiten des Volkes.

Während die Hierarchie in langfristigen Zeiträumen denken und auf die Struktur-Erhaltung bedacht sein muß, um das Uberleben der Kirche zu sichern — und auch daher systemintegrierende Kompromisse schließt und schließen muß, ist ein Teil der Seelsorger aus dem alltäglichen Umgang mit den Gläubigen, ihren Sorgen und Nöten, anderer Meinung. Sie sind „Volkspriester", „Arbeiterpriester" — wie etwa Jerzy Popieluszko einer war.

Popieluszko schrieb 1983 in einem Brief: „1980 haben die Arbeiter begriffen, daß sie stark sind in der Einheit mit Gott und der Kirche. Ich blieb bei ihnen in der Zeit des Triumphes, ich war bei ihnen in der schwarzen Dezembernacht." (Als das Kriegsrecht verhängt wurde.)

Hier wird ganz deutlich, was die „politisierenden" Priester in Polen motiviert: Es ist Seelsorge in erster Linie, Identifikation mit den Leiden und Anliegen der anvertrauten Herde ohne ein „Wenn" und „Aber". Ist das Politik?

Ja, es ist in gewissem Sinne Politik, muß es sein, in einem politischen System, das den Menschen reglementiert und ganz erfassen will. Aber daß es Politik ist, wenn Priester die Seelsorge an Menschen ausüben, die an den politischen Verhältnissen verzweifeln, ist nicht Schuld der Priester, sondern des Systems.

Popieluszko, Jankowski, Nowak und die anderen 66 haben — aus dem Wissen um die Meinung ihrer Gläubigen—in ihren Predigten öffentlich immer wieder das Recht der polnischen Arbeiter unterstrichen, „freie Gewerkschaften" zu gründen und zu unterhalten, sie haben sich für die Freilassung politischer Gefangener eingesetzt. Ist das Politik?

Ja, es ist Politik, muß Politik sein in einem System, das gewerkschaftlichen Pluralismus nicht erlaubt und politische Gefangene hat. Doch wiederum — es ist das System, das zum „Politisieren" zwingt, es ist nicht die „Schuld" des Priesters.

Als im März dieses Jahres in Polen der Streit tobte, ob in öffentlichen Gebäuden Kruzifixe hängen dürfen oder nicht, hat man drei Priester in Garwolin — die sich für Kreuze in den Schulen eingesetzt hatten — polizeilich vorgeladen und verhört. Jerzy Popieluszko damals: „Warum sollten die Kreuze aus den Schulen entfernt werden, wenn es die Mehrheit der Eltern und Schüler nicht wünscht?"

Eine „politische" Frage, eine Frage an das Demokratieverständnis, die ein autoritäres System als „Einmischung", als „Politik" ablehnen muß. Popieluszko (und andere Priester kollegen) damals: „Die Schule gehört der Nation und nicht irgendeiner Partei, Sekte oder Gruppe."

Vielleicht ist hier der Schlüssel zum Verständnis (und Mißverständnis) der „politisierenden" Priester in Polen und ihr gespanntes Verhältnis zum Staat: Beide, Vertreter der Kirche und des Regimes, fühlen sich für die Nation verantwortlich. Diese Verantwortlichkeit birgt wenig Gemeinsamkeiten, aber viel Konflikte. Und Konflikte sind Politik.

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