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An jenem Abend in Berlin...

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Der 30. Jänner 1933 war einer jener Tage, an denen die Weichen für die Geschichte der kommenden Jahrzehnte gestellt wurden. An diesem 30. Jänner wurde Hitler Reichskanzler. Die Folgen davon spürt die Welt noch heute. Wir alle leben noch im Schatten dieses Tages. Ich erlebte ihn in Berlin. Mein Vater war damals tschechoslowakischer Generalkonsul in der Reichshauptstadt, und ich studierte Jura auf der Berliner Universität, mein Bruder Architektur auf der Charlottenburger TH. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Und vor allem nicht den Abend, der diesen Ta&r beschloß.

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Der 30. Jänner 1933 war einer jener Tage, an denen die Weichen für die Geschichte der kommenden Jahrzehnte gestellt wurden. An diesem 30. Jänner wurde Hitler Reichskanzler. Die Folgen davon spürt die Welt noch heute. Wir alle leben noch im Schatten dieses Tages. Ich erlebte ihn in Berlin. Mein Vater war damals tschechoslowakischer Generalkonsul in der Reichshauptstadt, und ich studierte Jura auf der Berliner Universität, mein Bruder Architektur auf der Charlottenburger TH. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Und vor allem nicht den Abend, der diesen Ta&r beschloß.

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An jenem Abend in Berlin zeigte das Viertel um die Kaiser-Wilhelms-Gedächtniskirche im Westen das gewohnte Bild: grelle Reklamen am Kurfürstendamm, in der Tauentzien-straße, über den Spiegelscheiben des Kaufhauses des Westens, des UFA-Palastes am Zoo. Lichtüberflutete Auslagen der Auto-Union. Gemütlicher Betrieb im „Romanischen Cafe“, dem Treffpunkt der Literaten. Nichts deutet darauf hin, daß die Welt im Begriff war, sich zu verändern.

Im Gloria-Palast, dem UFA-Kino gegenüber der Gedächtniskirche, waren alle Vorstellungen ausverkauft. Man gab einen französischen Film von Rene Clair mit Annabella in der Hauptrolle. „Der 14. Juli“ hieß der Streifen. Ein Film voll Humor und Esprit. Die Zuschauer amüsierten sich köstlich. Sie dachten nicht im mindestens an die Französische Revolution, auf die der Titel des Filmes hinwies. Ebensowenig an die deutsche Revolution, die draußen zu marschieren begann, an jenem Abend in Berlin.

An jenem Abend in Berlin marschierten Stunden um Stunden schwarze, braune und graue Kolonnen vom Nollendorfplatz herunter über die Friedrich-Wilhelm-Straße zum „Stern“, und von dort zum Brandenburger Tor, um schließlich mit dröhnender Musik und brennenden Fackeln zur Parade vor dem Reichspräsidenten und dem neuen Reichskanzler in die Wilhelmstraße einzubiegen. Das Diplomatenviertel um den Tiergarten, das der Marsch dieser Kolonnen durchquerte, lag fast ausgestorben da. In der hell erleuchteten Einfahrt der Kaiserlich-Japanischen Botschaft stand, wie immer, der alte Portier mit dem Backenbart des ersten Hohenzollen-kaisers. Vor der türkischen Botschaft parkten ein paar Autos. Kemalletin Sami Pascha, ehemals Generalleutnant der türkischen Armee, der 15 Jahre seines Lebens ununterbrochen im Krieg gestanden und 17mal verwundet worden war, der Waffengefährte Kemal Atatürks, gab einen kleinen Empfang. In der tschechoslowakischen Gesandtschaft brannte ein großer Kristalluster in einem der Salons. Vor der rumänischen Gesandtschaft parkten zwei riesige Maybachs. Im Arbeitszimmer des Grafen Limburg-Stirum, des ehemaligen Gouverneurs von Indonesien und jetzigen Gesandten der Königin der Niederlande, sah man ein paar Schatten gegen das Fenster gelehnt. In völliger Dunkelheit lagen die Fassaden der übrigen Gesandtschaften. Ruhe und Stille lag über dem ganzen Diplomatenviertel.

Nichts schien auch Grund zur Aufregung zu geben. Was würde sich schon ändern in Deutschland? Die Armee, die Finanzen, die Reichsbank, das Außenamt waren in bewährten Händen. In den Händen von gescheiten, korrekten Ehrenmännern, zu denen die Diplomaten seit Jahren die besten Beziehungen besaßen. Unbekannt waren nur die zwei „Neuen“ in der Regierung. Aber der eine, der Innenminister, war ein alter Beamter und Beamte machen keine Revolution. Blieb nur der neue Reichskanzler. Aber der hatte ja sofort den Eid auf die Weimarer Verfassung abgelegt... Man hatte ihm auch noch einen Vizekanzler zur Seite gegeben, der doch der eigentliche Regent sein sollte. Der Reichskanzler war „eingekreist“, völlig außerstande, die Welt von heute auf morgen zu verändern. Seine Aufgabe, so hatte man vertraulich erfahren, werde es sein, den „Trommler“ zu spielen, der die Massen des arbeitenden Volkes für die neue Regierung begeistern sollte. Der mit Millionen von Anhängern der Regierung eine lange Stabilität sichern sollte. Die Diplomaten waren völlig beruhigt. Auch wenn die Hälfte all des Bösen, was man seit einigen Jahren über diesen Mann gehört hatte, sich wirklich als wahr erweisen sollte, konnte man beruhigt sein. Man hatte die Friedensverträge, die Allianzen, die Riesenarmeen. Es gab keinen Grund zur Besorgnis. Proteste schienen absolut nicht angebracht zu sein, an jenem Abend in Berlin.

An jenem Abend in Berlin brachten die Studenten der Universität in unmißverständlicher Weise ihren Protest gegen das neue Regime zum Ausdruck. Während einer Vorlesung über die Servituten des Römischen Rechts, am späten Nachmittag, nahm plötzlich ein Hörer in brauner Uniform seine „Mappe“ und ging von seinem hinten gelegenen Platz nach vorn, zur Ausgangstür. Er ging, sichtlich bemüht, nicht zu stören. Jeder der Anwesenden wußte, daß er zum Fackelzug ging, der binnen kurzem stattfinden sollte. Der Hörsaal hatte eine beträchtliche Länge. Der Student in SA-Uniform benötigte also eine geraume Weile, bis er zur Aüsgangstür kam. Als er sich in der Mitte des Weges befand, begann plötzlich der ganze, dicht gefüllte Hörsaal mit den Füssen zu scharren — das auf der Universität übliche Zeichen des Mißfallens. Der Professor schwieg, womit er zum Ausdruck brachte, daß er den Protest billige. Die Studenten waren zum größten Teil „Arier“; um so beachtenswerter ihr Protest. Aber er war wirkungslos, denn wofür sie demonstrierten, das war bereits gestorben, an jenem Abend in Berlin.

An jenem Abend in Berlin starb endgültig die bisherige Staatsform der Deutschen, die Weimarer Republik. Sie war das toleranteste Regime, das die Deutschen je besessen hatten. Sie war von einer Liberalität, wie sie sich die größten Liberalen der Paulskirche nie erträumt hatten. Sie hatte beachtliche Erfolge auf politischem Gebiet, beachtliche wirtschaftliche und soziale Erfolge erzielt. Sie war von einer erstaunlichen Geistigkeit. Sie war auf religiösem Gebiet von größter Toleranz. Aber sie war eine Republik ohne Republikaner. Der erste Reichspräsident, der Sozialist Ebert, war überzeugter Monarchist. Der zweite Reichspräsident, Paul von Hindenburg, fühlte sich als Statthalter des Kaisers. Von den 43 aktiven Generälen der Reichswehr war es sicher, daß sie bereit waren, Hindenburg die Treue zu halten, aber unsicher, ob sie auch der Republik treu zu dienen bereit wären. Das Offizierscorps der Armee war junkerlicher denn je. Die Beamten, die Diplomaten kamen alle aus der alten Schule. Die Flaggen der Kriegsmarine, der Reichswehr, der Handelsmarine zeigten nicht das Schwarzrotgold der Weimarer Republik, sondern die Farben des ehmaligen Kaiserreichs. Republikaner waren ein paar Zentrumsleute, ein Teil der Sozialisten und ein paar pazifistische Literaten.

Das Unglück der Weimarer Republik war, daß sie den Deutschen uninteressant erschien. Sie verzichtete bewußt auf jeden Glanz der Macht und war deshalb für die Deutschen von damals langweilig. Sie war bewußt gegründet gegen den „Geist von Potsdam“. Aber um sich zu behaupten, mußte sie sich mit den Männern von „Potsdam“ verbünden. Der einzige Erfolg, den sie auf diesem Gebiete erzielte, war der Abschluß eines Gentlemen Agreement zwischen dem „Geist von Weimar“ und dem „Geist von Potsdam“. Als aber der Reichspräsident am Mittag des 30. Jänner 1933 das neue „Nationale Kabinett“ berief, da schwenkte der „Geist von Potsdam“ ab und das Agreement war gebrochen.

Der eisige Wind, der von den vielen Spreearmen aus der märkischen Umgebung Berlins in die Stadt hereingetragen wurde, brachte die Flagge am Reichspräsidentenpalais zur Entfaltung, als die grauen, braunen und schwarzen Kolonnen durch die Wilhelmstraße zogen. Die Standarte zeigte noch die alten Farben der Weimarer Republik. Es war nur konsequent und entsprach ihrem Geist, daß sie zu ihrem eigenen Totenmarsch geflaggt hatte. Ihre Tragödie war vollendet, an jenem Abend in Berlin.

An jenem Abend in Berlin vollendete sich auch die Tragödie jenes Mannes, der trotz seiner 85 Jahre stundenlang dem Fackelzug, der die neue Zeit einleitete, zusah. Es vollendete sich die Tragödie des Generalfeldmarschalls von Hindenburg.

Dieser Mann war von Haus aus hoch-konservativ. Von Beruf aus ein großer Stratege. Aber schon Bismarck hatte davor gewarnt, Militärs an die Politik heranzulassen. Es könnte dabei nur Unheil geschehen. Aber Hindenburg hatte sich in die Politik gemischt und bereits „einiges“ Unheil angerichtet. Er hatte im Kriege Lenin nach Rußland bringen lassen und damit ein Sechstel der Erde dem Bolschewismus preisgegeben. Am 3. Oktober 1918 hatte er von der zögernden Reichsregierung die Absendung eines übereilten Waffenstillstandsangebotes an die Alliierten erpreßt und Deutschland damit alle Trümpfe aus der Hand geschlagen. Er hatte als erster im November 1919 die berüchtigte Dolchstoßlegende erfunden, die alsbald soviel Unheil in der deutschen Innenpolitik anrichtete. Er, der überzeugte Monarchist, hatte seinen Kaiser gezwungen, Im

November 1918 nach Holland zu gehen — eine Maßnahme, die Deutschland nicht im mindesten gegenüber den Alliierten entlastete. Er hatte als Reichspräsident die Reichskanzler Brüning, Papen und Schleicher gestürzt, jeweils in einem Augenblick, da diese Staatsmänner zum letzten entscheidenden Schlag gegen den Nationalsozialismus ausgeholt hatten. Er hatte jetzt, an diesem 30. Jänner 1933, Hitler an die Macht gebracht und damit den Weg zu einer Katastrophe geebnet, die Deutschland, Europa und die Welt überfallen sollte. Sein Unglück war, daß er nichts von Politik verstand.

Die knarrige Stimme des Ansagers, die an jenem Abend im deutschen Radio stundenlang eine Reportage des Vorbeimarsches in der Berliner Wilhelmstraße gab, erwähnte im Ton einer Tränendrüsenpropaganda in jedem dritten Satz den „greisen Feldmarschall“. Sie erwähnte nichts von der geradezu antiken Tragödie dieses Mannes, die sich vollendet hatte, an jenem Abend in Berlin.

An jenem Abend in Berlin, an dem das deutsche Radio ununterbrochen über den Fackelzug in der Wilhelmstraße berichtete, mit dröhnender Marschmusik, Begeisterungsschreien hysterischer Frauen unc knallenden Marschtritten als Geräuschkulisse, gedachten die Sende Westeuropas nur mit wenigen Sätzen des Ereignisses. Sie spulten um 22 Uhr ihre Nachrichtendienste ab und gaben einige wenige unsichere Kommentare zu den-Ereignis in Berlin. Dann, urr 22.30 Uhr schalteten sie alle auf ihi Nachtprogramm um. Aus „Radic Tour Eiffel“, „Radio Toulouse“ „Radio Strasbourg“ klang Nachtmusik. „Radio London“ übertrug Jazzmusik aus einer Bar. Man hörte die leisen, schleifenden Schritte der Tanzenden, das taktsichere Hämmern des Schlagwerks, die langgezogenen Schreie des Saxophons. Eine Altstimme, deren Timbre man Zigarettenrauch und Whiskydunst anmerkte, fragte etwas melancholisch: „Are you happy again?“

Über Europa lag noch tiefe Ruhe. Die Wirtschaftskrise war das schwerste Problem, das die Menschen belastete. Das Wort „Gestapo“ hatte noch keinen schrecklichen Klang für Millionen. Auschwitz war nur für sehr gute Kenner des großen österreichischen Kaisertitels, wo dieser Ort als Herzogtum angeführt wurde, ein Begriff. Es war unvorstellbar, daß Millionen von Menschen ohne Gerichtsverfahren auf bestialische und raffinierteste Weise ermordet werden könnten. Es war unvorstellbar, daß Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden könnten. Fallschirmtruppen, Raketen und Atombomben waren unbekannte Waffen. Stalingrad war niemandem ein Begriff. Noch galt der Grundsatz, daß Verträge zu halten seien und wer diesen Grundsatz dennoch brach, hatte zumindest ein schlechtes Gewissen. Niemand ahnte die Katastrophe, die kommenden Schrecknisse, den Wahnsinn, der zu rollen begann, an jenem Abend in Berlin.

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