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„Anarchischer Egoismus“

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Seit dem zweiten Weltkrieg ist die Kraftfahrzeugindustrie, besonders in England, einer der wichtigsten Wachstumsbereiche der Wirtschaft. Deshalb sollte sich eigentlich niemand darüber wundern, daß das Land mehr und mehr im Verkehr erstickt. Aber auch andere materielle Fortschritte, wie die maßlose Ausbeutung und Verpestung der Natur, machen sich immer unangenehmer bemerkbar.

Es wäre müßig, auf die allgemeinen Beschwernisse des Straßenverkehrs, wie Lärm, Gestank, Stauungen oder Raserei, einzugehen: sie sind überall die gleichen. Was man sich indessen fragt, ist, ob man weltweit auch dieselben Fehler wiederholen muß, die am motorisierten Elend der Amerikaner studiert werden können. Die Verkehrspolitik der pseudodemokratischen Anpassung an die millionenfache Autowut schreit nach Gegenvorschlägen.

Die bisherigen Maßnahmen der Londoner Stadtverwaltung hielten sich allerdings ans amerikanische Vorbild. Man verbreiterte die Verkehrsflächen, legte Einbahnsysteme an, baute Unter- und Überführungen und drang mit Schnellstraßen bis ins Herz der Stadt vor. Mit der teilweisen Erleichterung der Aus- und Einfahrt wurde schließlich erreicht, daß die inneren Bezirke mehr denn je verstopft sind.

Also muß etwas geschehen. Die „Experten“, nicht faul, verordnen ihr altes Rezept in stärkeren Dosen. Der geplante Schnellstraßengürtel, mit dem sie das Problem lösen wollen, wird offiziell sehr gelobt. In der Öffentlichkeit aber, die wenigstens pro forma konsultiert wird, stößt das Projekt auf ungewohnt heftige Ablehnung.

So macht man geltend, daß eine derartige Anlage eine unerhörte Platzverschwendung sei. Auf der einen Seite seien die Behörden froh, daß am Unterlauf der Themse wegen des Abwanderns der Hafentätigkeit zur Flußmündung rund 800 Hektar Bauland freiwerden. Auf der anderen Seite werde fast ebensoviel bestehende Wohnfläche an das Betonband samt seinen Auffahrten wieder verlorengehen. Der Landgewinn könnte demnach keineswegs, wie groß angekündigt, dazu dienen, die Wohnungsnot in London etwas zu lindern. Außerdem werde das gesteigerte Verkehrsaufkommen nur die innere Stadt noch mit Autos abwürgen. Die Kritiker antworten daher auf die ganze Misere mit der Forderung, das Privatauto weitestgehend aus der Stadt zu verbannen. Der stockende Umlauf von Menschen und Gütern könne einzig mit Hilfe des öffentlichen Verkehrswesens flüssig gestaltet werden.

Es gab eine Zeit, da konnte man alle drei Minuten mit einem Autobus rechnen. Heute zirkulieren die Busse unregelmäßig, haben deswegen immer weniger Fahrgäste und werden von Jahr zu Jahr unrentabler. Die Privatautobenützer wiederum leiden immer mehr an den Abgasen und Geräuschen dieser Vehikel, die überdies mit teuren Verkehrsbauten subventioniert werden müssen. Alle brauchen für die gleiche Strecke viel länger als früher der Autobus, für alle ist die Fahrt viel beschwerlicher.

Die Summe aus anarchischem Egoismus ist für alle negativ. Doch auch der Gütertransport, der schon früher oft die Straßen blockierte, sollte auf das Eisen- und U-Bahnnetz verlagert werden. In London ist dieses so dicht, daß das Zustellen in der Regel recht einfach wäre. Es müßten bloß die zahlreichen Laderampen erneuert und ergänzt werden, die in der jüngsten Vergangenheit aufgelassen wurden. (Seit neuestem schafft die Bahn stattdessen sogar Teile ihrer Fracht unnötigerweise auf der Straße von einem Londoner Bahnhof zum anderen!) Nach verschiedenen Rechnungen wären die Kosten einer solchen Neuordnung bedeutend geringer als der angeblich unvermeidliche Schnellstraßengürtel und andere Verkehrsbauten.

Eine weitere widrige Nebenerscheinung der Autosucht ist die zunehmende Zersiedelung der Stadtränder. Das Auto macht es nämlich möglich, Tag für Tag unsinnig weite Strecken zwischen Arbeitsplatz und Wohnstätte hin und zurück zu fahren. Während London früher hauptsächlich entlang der Bahnlinien wuchs, breitet es sich jetzt völlig regellos aus. Einigermaßen reizvolle Gegenden werden wie in jeder Stadtumgebung am liebsten verschandelt.

Auf einer Umweltkonferenz der Industrie betonte der zuständige Minister, Walker, jedoch unlängst die Notwendigkeit regionaler Planung. Für Südostengland habe das neugeschaffene Umweltministerium die Leitlinien bereits veröffentlicht; in den nächsten zwei Jahren würden jene der anderen Regionen ebenfalls ausgearbeitet werden. Im Zusammenwirken mit den Lokalverwaltungen sei es dann möglich, Grünzonen gezielt zu erhalten. Die Wirtschaftstreibenden, vor allem die Bauindustrie, hätten feste Prognosen in der Hand, an denen sie sich entsprechend ausrichten könnten.

Zugleich habe das Ministerium Schritte unternommen, die Luft- und Wasserverschmutzung zu registrieren, um sie in jährlichen Etappen abbauen zu können. Die Kosten hätten die Unternehmer zu tragen, von deren Betrieben die Verunreinigungen ausgehen. Willkürliches Verschmutzen werde streng bestraft werden. Die hygienische Beseitigung des Mülls von Privathaushalten, etwa der Hälfte aller Abfälle überhaupt, werde überwacht werden. Mitbürger, die mit ihrem Unrat die freie Natur oder die Straßen zieren, hatten mit empfindlichen Bußen zu rechnen.

Bezüglich der Lärmplage gab Walker zu. daß sie bisher offiziell unterschätzt worden sei. In Hinkunft werde man jedoch strengere Bestimmungen erlassen und auch die Forschung auf diesem Gebiet intensivieren. Sein Ministerium sei dabei, den Umfang aller einschlägigen Untersuchungen wesentlich zu erweitern. Ein jährlicher Rechenschaftsbericht werde über den Grad der Luft- und Wasserverschmutzung sowie der Lärmbelästigung detailliert Auskunft geben.

Die Industrie warnte der Minister vor dem Fehler, den Umweltschutz auf die leichte Schulter zu nehmen. Je länger sie die von ihr verursachten Schäden bagatellisiere, desto schwerer hätte sie später an deren Beseitigung zu tragen. Abgesehen davon, werde die weltweite Nachfrage jene Erzeugnisse und Produktionsmethoden bevorzugen, von denen die Umwelt nicht oder möglichst wenig in Mitleidenschaft gezogen werde. Die Neuverarbeitung von Altmaterial, in der Großbritannien eine Vorrangstellung einnehme, sei in dieser Hinsicht richtungweisend.

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