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Anatom der Seele

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„In seiner Hand war das Zwölf tonsystem tatsächlich berufen, Bereiche des menschlichen Seelenlebens zu beschreiben, Geheimnisse von Leben und Sterben zu ergründen, die nur mit den Mitteln der expressionistischen Kunst erschlossen werden können“. Zu einer Zeit, als das Musikpublikum noch Alban Bergs Werke, vor allem der Zwölftonzeit, als schockierend und entartet verteufelte, schrieb der Musikologe Karl Wörner dieses weitblickende Urteil. Er pries es als ein Geheimnis Bergs, „eine letzte expressionistische Verschmelzung von Klangfarbe und Harmonik“ zu erreichen, formal strengsten Anforderungen zu genügen und doch immer ein sensationelles Ergebnis von Verinnerlichung, Ausdruck und Lyrik zu bewirken. Es scheint merkwürdig, daß das Schaffen Bergs gerade nach 1945 gegen mehr Ablehnung und Mißverstehen zu kämpfen hatte als etwa zu Lebzeiten des Komponisten. Nach der in den letzten Jahren erfolgten Sichtung zum Teil unbekannter Materiahen und nach einer erneuten analytischen Auseinandersetzung mit seinen Werken kann man mit Sicherheit sagen, daß Berg zu Lebzeiten keineswegs ein verkanntes Genie war. Im Gegenteil, die Werke des ursprünglich als Rechtspraktikant in der Statthal-terei arbeitenden Alban, der 1906 den Dienst quittierte, um sich ganz seinem Studium bei Arnold Schönberg zu widmen, wurden schon sehr früh hoch geschätzt.

Vor allem Bergs Hauptwerk, die 1917 bis 1925 nach Georg Büchners Fragment entstandene Oper „Woz-zeck“, wurde 1925 in der Berliner Oper unter den Linden mit sensationellem Erfolg uraufgeführt. Schon zu Lebzeiten Bergs galt sie als das „Kultwerk der Zwischenkriegszeit“, das „aus dem expressionistischen künstlerischen Wülen geboren, ein erschütterndes, den Menschen tief berührendes Erleben vermitteln“ konnte.

Mit der streng zwölftönig entwickelten Wedekind-Oper „Lulu“ (1928/35) hatte Berg eine in der Geschichte der Oper vorher nie erreichte künstlerische Ubereinstimmung von Drama und eigengesetzlicher Musik verwirklicht. Er hinter Heß dieses Meisterwerk unvollendet, Friedrich Cerha stellte in den siebziger Jahren den „Lulu“-Torso nach Bergs Entwürfen - gegen den erbitterten Widerstand der Witwe Helene Berg und ihrer Berg-Stiftung - fertig.

Trotz vieler Erfolge hatte Berg zunehmend mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Sofort nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde er als Ehrenmitglied der Preußischen Akademie der Künste gestrichen, man verhinderte weitere Aufführungen seiner Werke in Deutschland. Eine Berufung als Kompositionslehrer an die Berliner

Musikhochschule hatte Berg - vieles vorausahnend - erst gar nicht angenommen, Berg und seine Frau Helene kämpften um die Existenz. Die seelische Bedrückung durch den Terror des Nationalsozialismus wurde für ihn zu einer so schweren Belastung, daß er sein Violinkonzert zwar noch vollenden konnte, „Lulu“ aber als Fragment hinterließ.

Auch heute noch, fünfzig oder sechzig Jahre danach, „empören“ Bergs Werke. Beweist das nicht, wieviel Aktualität, Brisanz und Zündstoff diese Meisterwerke sich auch durch ihre erbarmungslose Gesellschaftskritik bewahrt haben? Und wie tief Bergs „Blick in die Seele des mondernen Menschen“ bis heute zu erschüttern vermag?

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