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Angst - nicht Tugend, sondern Flucht

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„Wer sie nicht hat, muß sich fast schon schämen. Angst scheint zum Etikett des rechtschaffenen Menschen geworden zu sein. Oder ist Angst ein Alibi? Eine Flucht aus der Zeitproblematik? Wer sich der Angst verschreibt, nährt die Gefahren ..."

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„Wer sie nicht hat, muß sich fast schon schämen. Angst scheint zum Etikett des rechtschaffenen Menschen geworden zu sein. Oder ist Angst ein Alibi? Eine Flucht aus der Zeitproblematik? Wer sich der Angst verschreibt, nährt die Gefahren ..."

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Im Katalog der neuesten Tugenden hat sie einen merkwürdigen Ehrenplatz errungen: die Angst. Was philosophische Gesinnungsmoden „Entfremdung" nannten, was jeder Gebildete klugblickend als „Konsumterror" definierte, das tritt heute mit Atombedrohung, Kriegsfurcht, Techniküberdruß zusammen, zum neuen Zivilisationsgefühl, der Angst.

Wer sie nicht hat, muß sich schon fast ein wenig schämen, Angst scheint zum Etikett des rechtschaffenen, ja des verantwortungsvollen Mitmenschen geworden zu sein. Buchtitel häufen sich bereits, die programmatisch jene Gruppen in den Vordergrund rücken, die sich durch Angst als zukunftsfähig ausweisen wollen.

Angst vor der Technik, Angst vor Gift und Umweltkatastrophen, Angst vor den Atomkraftwerken: Nicht selten wird sie als Argument gehandelt, wo Zukunftsbewältigung verweigert und der Rückzug aus den Brandherden unserer Zivilisationsprobleme ehrenvoll gedeckt werden soll.

Angst als Alibi? Nicht selten hat das stolz und siegesgewiß vorgetragene Tugendsiegel der Angst auch diese Funktion: Verweigerung zu legitimieren, Passivität und destruktive Kritik zu rechtfertigen.

Was führt eine Gesellschaft dahin, die Angst nicht mehr als Motor ihrer Bewältigung, als elementaren Warnmechanismus zu würdigen, der Energien für Problemlösungen freisetzt? Statt dessen ist unter uns eine Kultur der Angst entstanden. Angst zu haben, gilt als ein Ausweis angemessener 1 Situationseinschätzung. Was einer aus seiner Angst macht, interessiert nach diesem Qualitätsbeweis weniger.

Kann Angst als Ehrentitel eine Flucht aus der Zeitproblematik sein, die man antritt, wenn eine Gesellschaft ihre Probleme nicht mehr bewältigen kann oder will?

Kein Zweifel: Die Angst, die heute vom Tabu des Schweigens befreit wird, begleitete uns schon länger. Sie ist, da man endlich von ihr sprechen darf, das Grundgefühl dieser Konsum- und Wegwerfgesellschaft, seit wir den Aufstieg geschafft haben. Immer komplexere Systeme lassen den einzelnen immer mehr allein. Immer perfekter verwaltetes Leben, überwiegend aus zweiter Hand gelebt, in Reiseprospekten und Fernsehprogrammen sterilisiert, ängstigt uns mehr, als wir zugeben möchten.

Seit wir fast alles haben, auch immer mehr Zeit, haben wir Zeit, uns zu ängstigen. Nun, da wir so reich sind wie nie zuvor, reich an Gütern, Meldungen, Meinungen und Nachrichten aus aller Welt, reich an Möglichkeiten, reich an Sicherungen, haben wir Energien frei, weil der Aufstieg endet. Angst faßt uns auch deshalb: Plötzlich sollen wir, ungeübt in der Bescheidung, hinabsteigen!

Bedrohlich erscheint nicht nur die Verlustangst den trainierten Prestigerivalen; drohend wächst auch rundum, da man endlich Gelegenheit hat, auszublicken, alles, was wir bisher als Erfolg verbuchten: die Industrie, die Technik, die chemische Fruchtbarkeit unserer Felder, die werbewirksame Ebenmäßigkeit unserer Früchte, die unscheinbare Durchsichtigkeit unseres Wassers, die Bläue unserer Atemluft.

Abstrakte Bedrohungen misehen sich unserem wankend gewordenen Weltbild ein: die Rüstung, die Kriegsgefahr, das Sterben der tropischen Regenwälder, der tägliche Tod der Millionen Kinder in fernen Ländern.

Könnten wir konkreter noch ins Auge fassen, was der Mensch ist und tut, so würde unsere Angst übermächtig. Aber nicht einmal dies haben wir begriffen: daß unsere Angst dem Menschen, nicht den Sachen gelten muß. Und was wesentlicher ist: daß eine kollektive Reflexstörung winkt, wenn unsere Angst uns nicht mehr kräftigt, sondern lähmt, wenn wir als Passivitätstugend handeln, was alle Kräfte mobilisieren müßte:

Angst, Elixier der Tapferkeit und des heldischen Mutes, ist ursprünglich ein Mittel unserer Natur, uns zur konzentrierten Steigerung unserer Klugheit und Vernunft, unseres Willens und unseres entschlossenen Mutes aufzurufen, unsere Phantasie zu beflügeln, damit wir lösen, was unlösbar erscheint, uns selbst überwinden, unsere Schwäche abwerfen und neue Möglichkeiten zum Uberleben entdecken.

Aktivität bannt Ängste. Wer abwartet, wer nur Bundesgenossen seiner Angst sucht, der wird die Angst steigern. Die zeitgenössische Veredlung einer Angst, die überwindungsbedürftig wäre, zur speziellen Tugend zeugt vom Rechtfertigungsbedürfnis taten-unlustiger Zeitgenossen.

Freilich haben wir es schwer mit der Zusammenschau unserer Lebensumstände. Mißtrauen breitet sich aus, Privatismus bietet trügerische Sicherheiten. Das groß Gefühlte, ob es nun Angst ist oder Sozialpathos, gilt heute mehr als zukunftsmutige Taten.

In Wirklichkeit ist es für uns besonders wichtig die Angst zu überwinden. Angst schwächt das Unterscheidungsvermögen für Freund und Feind. Der Ängstliche ist empfänglich für einfache Angebote und eindeutige Lehren, die ihm neben dem Problem, das er in seiner Angst flieht, auch diese Angst zu beseitigen versprechen.

Angst macht anfällig für ideologische Patentrezepte. Angst ist, per definitionem, die Kapitulation der Vernunft. Wer Angst hat, lebt mit gelähmtem Abwehrsystem.

Wer sich seiner Angst/ verschreibt, sie absolut setzt wie die Angstapostel unserer Zeit, nährt die Gefahren, die er fürchtet, bis sie ihn vernichten. Für gesellschaftliche Angstkulturen gilt nichts Geringeres.

Jener Kleinmut, der unter uns Platz gegriffen hat, zeugt sicherlich auch für die Macht unserer Probleme. Dennoch wird die politische, gesellschaftliche und kulturelle Zukunft unserer Gesellschaft davon abhängen, ob es uns gelingt, die Zukunftsangst produktiv zu machen.

Angst als Alibi, das ein verunsichertes Kollektivgewissen abschirmen soll, taugt zur Zukunftsbewältigung weniger als Gleichgültigkeit. Die kulturelle Angstphase zeugt vom Umbruch unserer schützenden Wertsysteme. Heimatlos, beklagt die Angstgesellschaft ihre Verluste und wird blind für die Zukunftsaufgaben, die im Verlust der Traditionen aufleuchten.

Nur wer die Angst vor den selbstzerstörerischen Energien des Menschen kennt, ist in der Lage, verantwortliche Zukunftsplanung zu betreiben. Angst produktiv werden zu lassen, das heißt also auch dies: ohne ideologische Illusionen eine wirtschaftlich bescheidenere, menschlich aber womöglich bewohnbarere Welt einzurichten.

Unsere Freiheit, immer besser zu leben, hat nicht unsere Humanität, sondern unsere Angst gesteigert.

Überschaubare Grenzen für unser Leben, Übersichtlichkeit statt Maßlosigkeit der staatlichen Versorgerrolle werden Ängste bannen, weil sie uns unserer eigenen Verantwortung versichern. Gestärkt durch die notwendigen Beschränkungen, werden wir angstschluckende Spielräume der Individualität wiederfinden.

Auch die junge Generation wird ihren Mut zur Zukunftsbewältigung gegen die Angst vor der Technik mobilisieren, wenn wir die lähmende Verwöhnung mäßigen. Protestmärsche im Namen der Angst müßten sich dann produktiv umsetzen lassen in Zukunftsmut, dem produktive Ideen und Taten in Wissenschaft, Technik und Kultur folgen.

Dr. Gertrud Höhler ist Professorin für allgemeine Literaturwissenschaft an der Gesamthochschule/Universität Paderborn.

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