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Der Mythos von Ikarus ist lebendiger denn je

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In unserem rationalistischen Zeitalter wird zwar nicht mehr an Wunder geglaubt, umso stärker hoffen wir aber auf sie.

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In unserem rationalistischen Zeitalter wird zwar nicht mehr an Wunder geglaubt, umso stärker hoffen wir aber auf sie.

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Nach diesem ungewöhnlich heißen Sommer und den letzten sehr milden Wintern stellt sich die Frage, ob eine Klimaveränderung erdgeschichtlichen Ausmaßes eingesetzt habe. Sollte sich das Klima tatsächlich verändern, werden wir es daran nicht hindern können. Sollte - wie dies heuer als astronomisches Superereignis bestaunt wurde - ein ferner Himmelskörper explodieren und seine Trümmer die Erde zerschmettern, könnten wir auch dagegen nichts tun. (Obwohl bereits von einem Meteoritenabwehrsystem die Rede war, von einem Krieg gegen Sterne!) Der Mensch, der sich das Prädikat „sapiens“ verlieh (das ihm nicht zusteht, solange er Kriege nicht verhindern kann), wird dann geschwisterlich mit Tier und Pflanze auf der gleichen Stufe kreatürlicher Bedrohung und Vernichtung stehen.

Wir sind es aber nicht gewohnt, von etwas bedroht zu werden, das wir nicht selbst wenigstens teilweise mitverschuldet haben. (Weshalb wir auch den Tod verdrängen). Während uns der Schweif eines Kometen archaisch apokalyptischen Schrecken einjagt, läßt uns der vielfache Overkill kalt. Damit leben wir schon recht lang und erstaunlich ruhig. Bei Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Vermurungen (von den wirklich grauenvollen Dingen bleibt unser begnadetes Land ja verschont), wird sofort nach menschenbezogenen Gründen gesucht, nach Umweltsünden, als könnte man die entfesselte Natur damit noch im nachhinein an die Leine nehmen. Hat sie ihr Zerstörungswerk doch nicht allein vollbracht, wir haben sie dabei unterstützt. Wir sind die Souveräne unserer Welt, wir machen alles selbst, auch die Katastrophen.

Bei ungewöhnlichen Naturerscheinungen oder Witterungen konnte man früher oft den als einfältig belächelten Ausspruch hören: daran sind die Atomversuche schuld. Seit über die Emissionen unseres Fortschritts genauere Kenntnisse vorhanden sind, sagt das niemand mehr. Sobald Bedrohungen zu Gewißheiten werden, geht man dazu über, sich an sie zu gewöhnen. Etwaigen Besorgnissen wird entgegengehalten, daß man alles „unter“ Kontrolle habe. Die Kontrolle vermittelt eine Scheinsouveränität, dabei ist sie nichts als eine begleitende Datenerfassung. Die fortschreitende Zerstörung (des Waldes, der Ozonschicht, der Artenvielfalt et cetera) wird in ein komplexes Berechnungssystem transponiert. Das winkt beruhigend. Wir befinden uns im statistischen Zeitalter. Sobald die Statistik im Computer gespeichert ist, ist das Problem „weg vom Tisch“, wenn sich an seiner Existenz auch sonst nichts geändert hat.

Als man noch den technologischen Sektor des menschlichen Geistes mit dessen Gesamtheit gleichsetzte, konnte man angesichts schwerwiegender Probleme oft den Ausspruch hören: Wir (nämlich wir, die wir uns mit unseren großartigen Wissenschaftlern identifizieren) werden schon etwas finden. So gläubig ist heute niemand mehr. Heute wissen wir, daß wir zwar vieles schlecht, aber wenig wieder gut machen können, auch nicht, wenn wir es uns verbindlich vorgenommen haben (siehe Torontoziel). Wir benehmen uns wie Schüler, die nichts lernen und bei der Prüfung auf Wunder hoffen. Halbkaputte Atomkraftwerke belagern uns wie fürchterliche Ungeheuer, schlimmer als alle Drachen der Vorzeit — und wir haben sie mit unseren eigenen fleißigen Händen und stolzen Gehirnen hingestellt. Die technische Entwicklung hat längst eine Eigendynamik angenommen. Der Mensch ist nicht mehr Souverän, eher eine Art Buchhalter, der mit seinem Computer den Dingen hinterherläuft. Es ist an der Zeit, sich den Mythos des Ikarus ins Gedächtnis zu rufen, der unsere Epoche so klar zum Ausdruck bringt: Höhenflug ohne die Fähigkeit des Navigierens. Vom Höhenflug der technischen Entwicklung berauscht und den herrschenden Aufwinden hingegeben, haben wir ziemlich lange den Mangel an Navigationsfähigkeit nicht bemerkt. Nun, mit schmelzenden Flügeln steht uns so Schwieriges zu lernen noch bevor.

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