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Krankheiten & Demokratie

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Die Demokratisierung wird erst dann vollzogen sein, wenn auch gemeine Krankheiten aufgewertet werden.

Es gab schon immer zwei Sorten von Krankheiten – aristokratische und solche fürs einfache Volk. Zum Beispiel Migräne war vornehmen Damen vorbehalten. Unvorstellbar, daß sich eine Fabriksarbeiterin wegen Migräne krank meldete, ja selbst die Chefsekretärin konnte es nur, wenn sie sehr gute private Beziehungen zum Chef hatte. Fürs Volk gab es nur ordinäre Kopfschmerzen, die dazu noch immer als Ausrede verdächtig waren. Migräne wäre hier so fehl am Platze gewesen wie Appetitlosigkeit bei Hungerleidern.

Beispielsweise war Rheuma früher wohl nicht nur als Zeichen des ehrwürdigen Alters nobel; da die großen Herren in ihren Schlössern und Burgen in noch größerer Feuchtigkeit lebten als ihre Untertanen, war es wohl auch ein Statussymbol. Ebenso Gicht, die von übergroßem Fleischkonsum genährt wird. Ja, sogar manche Geschlechtskrankheiten galten als Kavaliersleiden, es war also keine Schande, im Alter die progressive Paralyse vorzuweisen.

Im Laufe der Jahre hat sich natürlich so manches geändert. Die progressive Paralyse wird nur noch im politischen Bereich hoch geschätzt. Was Migräne betrifft – mpine ehemalige Frau hatte sie, wann immer sie sie brauchte, obwohl sie weder adliger noch großbürgerlicher Herkunft war; ganz im Sinne der heutigen Tendenz zur Demokratisierung des Lebens.

Wir sind aber erst auf halbem Wege. Die Demokratisierung wird erst dann vollzogen sein, wenn auch gemeine Krankheiten – gemein in jeder Bedeutung des Wortes – aufgewertet werden. Zum Beispiel die Grippe.

Wenn man schon krank ist, soll man etwas davon haben. Ich denke dabei nicht ans Krankfeiern (das mich als Selbständigen nicht betrifft) oder an Zahlungen der Versicherung. Nein, wenn man krank ist, will man umsorgt, will zum Mittelpunkt des Interesses seiner Nächsten werden. Und dies hängt davon ab, wie hoch eine Krankheit geschätzt wird.

Ich kann mir vorstellen, dciß ir-

gendwo auf einer Südseeinsel, auf der das Wetter immer gleich gut ist, ein Mensch mit Erkältung eine solche Seltenheit darstellt, daß man über ihn sogar in den Zeitungen schreibt. Einer, den eine richtige Bronchitis mit Fieber erwischt, könnte sich da sogar um den Fremdenverkehr verdient machen, denn die Leute werden von allen Seiten zusammenströmen, um ihn zu bestaunen.

In Norddeutschland ist das Wetter, weiß Gott, nicht gleichmäßig. Selbst mit dem Regen kann man nicht mit hunderprozentiger Sicherheit rechnen, nicht einmal am Wochende. Mit einer Erkältung kann man bei uns niemandem imponieren. Die Leute erkundigen sich nach ihrem Befinden, wünschen gute Besserung – alles nur Höflichkeit.

Mit Mitleid kann man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erst dann rechnen, wenn der Arzt eine Bronchitis festgestellt oder der Krankheit einen anderen lateinischen Namen gegeben hat; und dies auch nur seitens der oder des Geliebten – bei denen ist auch ein wenig Eigennutz im Spiel.

Eheleute fangen erst an, sich umeinander zu kümmern, wenn‘ sich die Körpertemperatur des Partners zumindest um zwei Grad erhöht hat; der Ehemann fängt natürlich nur dann an, seine Frau nett zu behandeln, wenn er gemerkt hat, daß sie krank ist – zum Beispiel daran, daß das Abendessen nicht rechtzeitig fertig war.

Man ist also krank – die Nase läuft, der Kopf brummt, man schwitzt – und man hat nichts davon. Unsere Krankheit interessiert niemanden, sie ist ja in unseren Breitengraden nichts Besonderes. Man sucht Mitleid beim Arzt – und er gibt uns statt dessen Arzneien, obwohl er so genau wie wir weiß, daß eine Grippe ohne Medikamente eine ganze Woche dauert, mit Medikamenten dagegen nur sieben Tage.

Ist es nicht bezeichnend, daß man gegen die seltensten Krankheiten wirksame Mittel gefunden hat, mit dem Schnupfen aber nicht fertig werden kann?

F^ ist wie in der Gesellschaft: Man interessiert sich für Brandstifter, Mörder und Terroristen, man bringt ihnen Verständnis und Mitgefühl entgegen. Um diejenigen, die sich mit normalen menschlichen Wehwehchen herumschlagen, wie Geldmangel und Schwierigkeiten im Beruf und in der Ehe, kümmert man sich kaum. Wozu auch? Eine wirksame Medizin für diese Fälle vmrde noch nicht erfunden.

Ein mehr oder weniger gesundes Mitghed der Gesellschaft zu sein, lohnt sich schon gar nicht. Für so einen Fall interessiert sich nur noch das Finanzamt. Im Namen der Demokratisierung wäre es wichtig, die einfachen Krankheiten und die einfachen Menschen aufzuwerten.

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