Orca - © Foto: iStock/Musat

Orcas Glück und Poppers Beitrag

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Warum ein Schwertwal in siche­rer Gefangenschaft nicht einmal halb so alt wird wie in Freiheit. Und wie uns monotone Sicherheiten Lebensqualitäten rauben.

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Warum ein Schwertwal in siche­rer Gefangenschaft nicht einmal halb so alt wird wie in Freiheit. Und wie uns monotone Sicherheiten Lebensqualitäten rauben.

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Jüngst haben sich ein paar Orcas, nach menschlicher Auffassung bemessen, danebenbenommen. Es geschah vor der Küste Spaniens, in der Nähe Gibraltars. Eine Gruppe dieser Schwertwale schwamm auf Fischerboote zu und rammte sie sanft oder mit Wucht. Dieser und ähnliche Zwischenfälle im weiten Ozean reichten jedenfalls aus, mediale Wellen um den ganzen Globus zu schlagen. Auf der anderen Seite versetze man sich in die Rolle der Orcas, denen die Boote die Fische wegfangen. Wer würde denn einmal dort nachfragen, wo all die Fische hin verschwinden? Und wenn dann noch ein Orca wüsste, dass in den Aquarien, in denen ihre Artgenossen gefangen gehalten werden, das Anstupsen von Gegenständen zu „Kunststücken“ gezählt wird, dann könnte man die Attacken auch als Protest gegen menschliche Idiotie sehen, im echten Leben an Booten ausgelebt. Schöne Fantasie irgendwie.

Vom Orca lässt sich eine Brücke zum Menschsein schlagen. Hin zu unserem Hang, der Sicherheit gern einmal viel von der Freiheit zu opfern und uns unsere eigenen gesellschaftlichen Aquarien zu zimmern: bequem, sicher und unendlich öde.

Aber hier nun real Interessantes: Orcas leben in Familienbanden unter weiblicher Führung. Ohne dass ihm die Erblehre das eintrichtern muss, begatten die Männchen einer Gruppe stets Weibchen einer anderen Familie, was Inzucht ausschließt. Auch sprechen diese Familien Dialekte ihrer Delfinsprache, die unverwechselbar sind. Es weiß also jeder Orca, wo sein Heim ist. Das sind die Bindungselemente dieses Säugetiers. Mehr nicht. Es jagt sehr erfolgreich im Rudel und unter Anwendung verschiedenster hoch anspruchsvoller Taktiken, Einkreisen und Verwirren der Beute oder Zerkleinern von Eisschollen, auf denen Robben oder Pinguine sitzen, inbegriffen.
Aber was uns hier wirklich interessieren sollte, ist, dass der Orca nur in freier Wildbahn wirklich alt werden kann. Man stelle sich vor. In den Aquarien wird dem Tier offenbar alles geboten, Kost, Logie, Sedativdrogen und Partner zur Fortpflanzung, dazu noch Zuseher und Streicheleinheiten. Und trotzdem welkt es dort vor sich hin. 30 Jahre hält sich das Tier in Gefangenschaft, in Freiheit hingegen bis zu 100 Jahre.

Da lässt sich eine Brücke zum Menschsein schlagen, nicht zum Lebensalter, aber zur Lebensqualität. Hin zu unserem Hang, der Sicherheit gern einmal viel von der Freiheit zu opfern und uns unsere eigenen gesellschaftlichen Aquarien zu zimmern: bequem, sicher und unendlich öde. Selbst die Bildung wird im Sinne eines Bildungsauftrags (wessen eigentlich?) in „Kanons“ gepfercht, wie auch die Literatur. Platon hätte eine Freude damit gehabt: „Niemand soll ohne Führer sein, jeder soll seine Seele so in die Pflicht nehmen, dass sie nicht einmal auf den Gedanken kommt, unabhängig zu handeln, und dazu völlig un­fähig wird.“ Karl Popper hat diesen Standpunkt philosophisch hingerichtet und sich die „offene Gesellschaft“ erträumt. Die Politik zeigt sich da zunehmend taub. Bei den Orcas hingegen hätte Popper offene Meerengen eingerannt. Und geschlossene Aquarien sowieso.

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