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Snobismus der Satten

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Unsere Urahnen aßen nur natürliche Kost, und starben trotzdem viel jünger als wir.

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Unsere Urahnen aßen nur natürliche Kost, und starben trotzdem viel jünger als wir.

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Als Mensch, der gerne gut ißt, habe ich für die Verfechter der Naturkost ein gewisses Verständnis; Man möchte gerne Eier essen, die nach Eiern schmecken, und Tomaten, die den Geschmack von Tomaten haben.

Ich könnte mir meinen anspruchsvolleren Geschmack in bezug auf Eier und Tomaten eventuell auch leisten. Die Menschheit als Ganzes kann sich ihn aber nicht leisten, weil die alten Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, die man heute „natürlich" nennt, zu wenig ergiebig sind.

Seit es die Menschheit gibt, kämpft sie gegen die Natur, um sich von ihr unabhängig zu machen. Dann aber sehnen sich die Menschen, die schon feste Häuser aus künsthchen, von Menschen hergestellten Stoffen und genug Nahrung für ihr vermehrtes Geschlecht haben, nach Urlaub in einer primitiven Hütte und nach Naturkost.

Nichts dagegen - solche kleinen Snobismen bestätigen einem, daß man im Wohlstand lebt. Wenn sich die Naturköstler aber auf die Gesundheit berufen, muß ich protestieren. Wenn ich von „makrobioti-scher" oder „dynamisch-biologischer" Kost höre, hebt sich mein Magen bis zum Hals - denn jedes dieser Worte riecht meilenweit nach Apotheke.

Schon vor fünfhundert Jahren stand im „Ein kurzweilig Leben von Till Eulenspiegel": Till „bekreuzigte sich alle Morgen vor gesunder Speise und starkem Getränk. Denn gesunde Speise, das wäre Kraut, so gesund es auch wäre. Auch bekreuzigte er sich vor der Speise aus der Apotheke, denn wiewohl sie gesund sei, sei sie doch ein Zeichen der Krankheit. Das starke Getränk wäre das Wasser, denn es treibe große Mühlräder mit seiner Stärke, auch tränke sich mancher gute Gesell den Tod daran." Eulenspiegel mochte halt lieber gut als gesund essen.

Es geht nicht nur darum, daß das Gesunde nicht immer gut und das Gute nicht unbedingt gesund ist -oder auch umgekehrt. Als Tierliebhaber - ich liebe mehrere Tierarten gegrillt, gebraten oder auch gedünstet - weigere ich mich, dem lieben Vieh den Schrot wegzufressen.

Woher kommt die These, daß die sogenannte Naturkost gesünder sei als die, die mit Hilfe von modernen Mitteln produziert wurde? Abgesehen davon, daß viele Untersuchungen in industriell hergestellten Lebensmitteln nicht mehr Schadstoffe gefunden haben als in den „biologisch-dynamischen": Unsere Urahnen aßen nur natürliche Kost, sie sammelten Ähren von wild wachsenden Pflanzen - und starben trotzdem viel jünger als wir.

Der Aufbau der Landwirtschaft war der größte Eingriff des Menschen in die Ntaur, und er ist Tausende von Jahren alt. Seither züchtete man Pflanzen mit Hilfe von künstlichen Mitteln, auch chemischen - wie Asche, Schlamm, fermentierte Pflanzenreste und Kot. Nur deshalb konnte sich die Menschheit vermehren und trotzdem einigermaßen satt werden -was wiederum die Entwicklung des Menschen und der Zivilisation ermöglichte.

Die Naturkost konnte schon vor Jahrtausenden die damalige geringe Bevölkerung nicht ernähren - sonst wäre die Landwirtschaft nicht erfunden worden. Selbst wenn wir alles als Naturkost betrachten wollten, was ohne chemische Düng- und Schutzmittel erzeugt wird - wo gibt es heute noch Gebiete ohne chemische Fremdstoffe in der Erde und in der Atmosphäre? Wie viele Menschen können sie ernähren?

Der Ruf nach allgemeiner Rückkehr zur Naturkost ist ein Zeugnis der Unwissenheit - oder der Heuchelei der Satten.

Die private Entscheidung für Naturkost - was immer das sein mag -ist nur ein selbstbetrügerisches Spielchen. Lassen wir es gelten: Satte Menschen können sich einige snobistische Marotten leisten.

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