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Titanische Werke

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Der Mensch ist kein Titan und kein Gigant. Nur die leichtsinnigen griechischen Götter schufen Riesen (die Giganten allerdings nur aus Versehen), die sich dann gegen sie auflehnten. Aber auch dies schadete der göttlichen Ordnung nicht, denn die titanischen Rebellen handelten wie alle Rebellen nach -und wahrscheinlich auch vor - ihnen: Kaum hatten sie gesiegt, schickte Kronos, der Führer der Revolution, seine Rrüder - eben die, für deren Refreiung er gekämpft hat - in die Verliese des Hades zurück.

Die weise Mutter Natur schuf die Menschen nicht zu Riesen, sondern zu jämmerlichen Zwergen. Trotz ihrer Weisheit war sie aber nicht vorsichtig genug: Sie hat den Faktor der Menge übersehen, die Tatsache, daß eine Million Zwerge gefährlicher werden kann als ein Dutzend Titanen - so konnten ihr die Zwerge ohne titanische Kraft in gnomenhafter Maulwurfarbeit gigantische Schäden zufügen.

Übrigens, der Mensch will gar nicht ein Riese sein, so wie er auch nicht frei sein will; die höchste Stufe der Freiheit, die er sich vorstellen kann, ist die Freiheit, über andere zu herrschen, also dadurch groß zu werden, daß er als Oberzwerg auf den Köpfen anderer Zwerge steht. Wenn Menschen nach Freiheit und Größe rufen, ist dies eine geistige Verkleidung, eine Larve, ähnlich jenen überlebensgroßen Masken, die man in karnevalistischen Umzügen herumkutschiert. Die Mythologie bezeugt, daß die göttlichen und halbgöttlichen Riesen auch nicht anders waren, nur körperlich größer. Vielleicht hatte der Mensch in den Kinderjahren der Menschheit gigantomanische Vorstellungen von sich selbst ... Mit der Entwicklung der Zivilisation werden diese Vorstellungen immer bescheidener. Der Trend geht zum Zwerg, allerdings zum Massenzwerg, zu der gefährlichen Zwergenmasse.

Irgendwie müssen wir aber doch Nachkommen jener Riesen sein, denn Größenwahnsinn ist uns nicht ganz fremd; er lebt in uns als verkümmerte, zwergenhafte, degenerierte Form des Gigantischen. Wie degeneriert diese Form ist, beweist die Tatsache, daß sich einige Zwergtitanen auch in unserem Jahrhundert mit ihrem Größenwahn für einige Zeit durchsetzen konnten -jene Zwerge, auf deren Ohnmacht sie ihre Macht aufbauten, fühlten so wenig titanisch, daß sie sich als Masse nicht auflehnten. Im Gegenteil: Sie übertrugen ihre Minigigantoma-nien auf den Führer.

Die Entwicklung des einzelnen Menschen wiederholt die Entwicklung der Menschheit: Solange er jung ist, hat er titanische Gefühle, er rebelliert gegen seine Erzeuger und die von ihnen geschaffene Ordnung, gibt es aber später auf.

Menschen, die ihr Leben lang Revolutionäre bleiben, widerlegen diese Regel nicht. Mit der Zeit üben sie nämlich keine Rebellion mehr aus, sondern ihren erlernten Reruf; manchmal sogar gegen ihre wahre Überzeugung. Nach zwanzig oder dreißig Jahren ist auch das Stehen auf den Hinterbeinen eine eingeübte Pose, pure Routine. Rerufsrevolu-tionäre leben im Alltagstrott, wie alle anderen Menschen auch. Revolution als Beruf zu betreiben, ist nicht viel aufregender, als Buchhaltung in einem Wäschelager zu führen.

Die Natur und die Gesellschaft haben ja ihre Mittel, um die Menschen zur Resignation zu bringen. Man wird älter, müde, und, wenn nicht klüger, so doch erfahrener. Man kriegt Kinder, die man ernähren muß, man muß auch Kleidung für die Familie beschaffen, vielleicht auch ein Häuschen. Auf den Hinterbeinen stehend - solange es keine berufliche Tätigkeit ist - kann'man höchstens Blätter von den Bäumen fressen.

Sollen wir nicht die Natur und die Gesellschaft für ihre Weisheit loben? Wozu brauchen wir Zwerge titanische Kämpfe zu führen? Sie werden doch auf unserem Rücken ausgetragen, damit uns - wenn wir Erfolg haben - ein neuer Chefgott in die alten Verliese steckt. So hat jeder von uns seinen sicheren Trott. Man gewöhnt sich, man arrangiert sich, man dreht die Kurbel des Lebens. Ist das nicht, nach Menschenkräften gemessen, eine titanische Arbeit?

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