Karussell-Pferd - © Foto: iStock/PhotoTalk

Vom Kreisen der Pferde

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Was angemalte Holzpferde mit dem Lebensplan des modernen Menschen zu tun haben, und warum das nicht so schön ist wie es klingt.

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Was angemalte Holzpferde mit dem Lebensplan des modernen Menschen zu tun haben, und warum das nicht so schön ist wie es klingt.

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Es sind uns die lebenden Tiere nicht ausgegangen – so viel muss man vorausschicken, wenn man ein Karussellpferd in eine Tierkolumne einreiten lässt. Es ist jedoch so: Diese geschnitzten Tiere vermögen manche Menschen in besondere Stimmungen zu heben. Und wenn dann noch die Karussellorgel spielt, springen einige von ihnen sogar ins Metaphysische hinein. So muss es Rainer Maria Rilke ergangen sein, als er 1906 in Paris das Gedicht „Das Karussell“ schrieb. Er schlich sich zunächst mit Kinderaugen an die Sache heran: „Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich ein kleine Weile der Bestand von bunten Pferden / alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht.“ Es scheint da anfangs nur ein Heimweh in den Vers eingemalt, eine Sehnsucht nach einer rosafarbenen Kindheit und nach vorsichtsloser Unbeschwertheit.

Das ist aber nur der Auftakt. Denn der Dichter trabt munter weiter und landet letztlich im Lebensgleichnis: „Und so geht es hin und eilt sich, dass es endet / und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel / ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet / ein kleines kaum begonnenes Profil / und manchesmal ein Lächeln, hergewendet / das blendet und verschwendet in diesem atemlosen, blinden Spiel.“ So entlässt das Gedicht den modernen Menschen, dem es auf den Leib geschrieben wurde in eine impressionistische Trostlosigkeit. Die Existenz, ein Ringelreih fliehender Bilder mit einer paar Liebes-Pirouetten.

Von Dunkelheit und Licht

Frühe Kulturen kannten ein anderes Rundherum: „Neheh“ nannten die Ägypter in ihren Hymnen das Prinzip des Kreisens von Werden und Vergehen. Der Tag wird geboren aus der Dunkelheit des „Achet“ und versinkt am Abend wieder darin. Beamtete Priester beteten dann unablässig heilige Verse, damit die Sonne wieder aus der Finsternis emporsteigen könne. Das Volk errichtete Pyramiden, damit der Pharao nach dem Tod helfe, das „Neheh“ zu bewahren. Eine abergläubische, aber zwingende Sinngebung für das Leben steigt aus den Gesängen: Alles ist hingeordnet auf die Bewahrung des Lichts und alle haben eine bestimmte Rolle für den Erhalt des Ganzen.

Zwischen den Hymnen des „Neheh“ und dem „Karussell“ liegen 4000 Jahre. Machte man ein Umfrage, würden nicht viele unwillkürlich die Sinngewissheit der Ägypter höher schätzen als die impressionistische Galoppade? Und versucht man nicht oft von dem modernen Karussell abzusteigen, auf dem Sinne den Sinn ersetzen wollen? Vielleicht ist zwischen der kosmischen Gewissheit Ägyptens und der nur um sich selbst spinnenden Existenz des ökonomischen Menschen noch etwas vorhanden, das uns das „Atemlose“ nehmen kann. Man denke etwa an das ewige Lächeln, Holzpferden aufgemalt.

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