6994205-1987_03_17.jpg
Digital In Arbeit

Ankunft eines Barbaren

Werbung
Werbung
Werbung

Das hier folgende Feuilleton ist vor dreißig Jahren entstanden, genauer: am 9. Dezember 1956. Drei Tage zuvor war ich nach einer mehrstündigen Wanderung über die Grenze in Österreich angekommen. Budapest, während der Revolution 1956 zerstört, lag hinter mir. In Wien wurde ich von einem der vielen Österreicher aufgenommen, die sich bereit erklärt hatten, für einen obdachlosen Flüchtling ein Bett bereitzustellen. Hier, in der kleinen Wohnung des Schriftstellers Herbert Eisenreich, brachte ich meine ersten Eindrücke zu Papier. Die Politik blieb ausgeklammert. Zu frisch waren die Wunden, zudem hatte ich die Absicht, das böse Spiel für meinen Teil zu beenden. Ich schrieb auf Ungarisch, übersetzte den Text ins Deutsche und legte ihn meinem Hausherrn vor. Er korrigierte die Fehler und führte mich am nächsten Tag in ein Kaffeehaus. Er reichte das Manuskript einem freundlichen untersetzten Mann, der die paar Seiten überflog, ans Telefon eilte und nach einem kurzen Gespräch mitteilte, wir mögen den Artikel an die ,JSalzburger Nachrichten“ schicken, zu Händen von Frau Ilse Leitenberger. So lernte ich Hans Weigel kennen. Das Feuilleton erschien am 7. Jänner 1957 unter dem Titel „Mit den Augen eines Barbaren“. Es war meine erste Veröffentlichung in Österreich.

G. S.

Hier stehe ich, im Lichterge-funkel des Graben in Wien, und muß an jene Ungarn denken, die vor tausend Jahren aus der Dunkelheit Asiens hierherritten und mit Bewunderung, aber auch mit etwas Mißtrauen im europäischen Licht sich umschauten. Die Stadt, aus der ich komme, ähnelt jetzt einem vom Sturm gerüttelten Schiff, welches sich wunderbarerweise doch noch über Wasser hält, wenngleich seine Lichter gelöscht sind und die Mannschaft irgendwo unten in der Tiefe kämpft; die Stadt, in die ich jetzt gekommen bin, wirkt wie ein

plötzliches Erwachen: ganz real — und zugleich traumhaft. Sie wirkt so unwahrscheinlich vielleicht auch dadurch, daß sie so zauberhafte Gegensätze vereinigt, daß Altes und Neues in ihr zusammenklingt, übereinstimmt.

Da bleibe ich, der hierher verschlagene Barbar, zum Beispiel vor einem Haus in der Innenstadt stehen und will meinen Augen nicht trauen: Eine, nein sogar zwei Steintafeln verkünden, daß

hier Mozart gestorben ist. Mir (dem Barbaren) kommt es vor, als könne ich mich jenes regnerischen Tages und des einsamen Sarges entsinnen, und da fällt mein Blick auf eine andere Tafel: „Striptease“. Wo Mozart starb. Und unter dem ersten Stockwerk beugen sich aus kleinen Bronzefenstern bronzene Herren heraus, einige mit zierlichen Perücken, einige auch mit einem Lächeln auf ihren Lippen: Cherubini, Beethoven, Haydn, Gluck, Weber, Rossini; und sie alle, ohne Zweifel, wünschen eben dort hineinzuguk-ken in das Lokal, wo sie eine sehr neue und freie Form der Lebenslust zu finden glauben. Der Barbar, der die Neugier der großen Geister keineswegs als profan empfindet, befreit sich von seinen tragischen Gefühlen und hört auch hinter den Bronzebusen das Pulsieren des Lebens.

Auf Schritt und Tritt die merkwürdige Harmonie der Gegensätze! Die Straßenbahnen, die noch aus der Remise „Monarchie“ kommen, und neben ihnen die stromlinienförmigen Autos — auch das paßt zusammen... aber muß man denn übertreiben? Sind diese breiten, niedrigen und vor allem langen blechernen Dinger überhaupt noch Verkehrsmittel, oder sind das nicht schon Geschöpfe an sich, die gnadenhalber ein paar Menschen noch in ihrem Bauche dulden, aber alles, was zu Fuß geht, verachten? Wozu dieser Stolz? Ist es nicht eine vieltau-

sendjährige Erfahrung, daß immer die kleinen Menschen auf einem hohen Roß reiten wollen?

Aber sonst ist das Wiener Leben — über das so viele gescheite Männer so viele gescheite Studien geschrieben haben und noch viel mehr schreiben werden —, aber sonst ist dieses Wiener Leben bescheiden, weil es gemütlich ist, und stellt nicht die falschen, sondern seine wirklichen Schätze ins Schaufenster. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes! Der Barbar, in dessen Heimat ein Ritter vor vierhundert Jahren täglich seine vier Kilo Fleisch vertilgte, hat noch vor einigen Tagen mit geheimer Begierde jedem kräftigen Pferde nachgeschaut und berechnet, wieviel Gulyäs daraus gemacht werden könnte. Und nun steht er vor den Auslagen der Fleischhauer und ist wie verzaubert: welche Farbenpracht, vom duftigsten Rosa bis zum grausamsten Rot! Die Skala der Farben, die Vielfalt der Formen und die Wellen der Gerüche steigern die Gefühle bis zur Ekstase — es ist eine eigenartige, Körper und Seele gleich bebenmachende Poesie des Fleisches!

Und dann die vielen kleinen Gasthäuser, wo man sich am Ende des Abendessens — wie als eine prunkvolle Krönung — einen golden schimmernden Kaiser-schmarrn servieren lassen kann, schon mit Zucker bestreut, aber dazu auch noch eine bauchige Zuckerdose, aus welcher süßer Weihnachtsschnee herunterpulvert; und dann der Mokka, da unter der Oper, der Kaffee, in welchen die rätselhafte Technik die Hitze des Äquators und die dunkle Stärke eines Negerboxers hineinkonzentrieren kann ... Ja, so ist es: zuerst störte das Knurren der barbarischen Mägen die Stille der engen Gassen, aber allso-gleich regt sich die unhörbare, doch spürbare Lebensfreude!

Und da wird der Barbar von Gastgebern, die es besonders gut mit ihm meinen, dorthin eingeladen, wo er sich an dem löwenhaf-ten Portier vorbeidrückt, weil dieser ihn an seinen strengsten

Professor erinnert; wo ein Konsilium von Kellnern sich über die Tafel beugt wie ein Konsilium von Ärzten über den Seziertisch; wo auf enormen Tellern glasdünne, ätherische Schnitzel zwischen drei Fäden Kraut liegen und man bei jedem Ausatmen befürchtet, die klinische Sauberkeit der ganzen Atmosphäre zu beleidigen. Aber das ist ja nur unbequem für einen Barbaren...

Aber weil er halt nun einmal ein Barbar ist, darf er, wenn er sich nun die Frauen anschaut, ein bißchen wilder und wirklich ganz aufrichtig sein. O ja, die Wienerinnen sind schön, sind sogar noch schöner als man überall sagen hört, weil sie gut gebaut und blu-menhaf t sind; und darüber hinaus können sie so gehen — nicht einfach gehen, sondern schreiten -, beinahe schwebend im Licht, daß es geradezu ein Mirakel ist, daß sie im Regen ihre Strümpfe anspritzen. O ja, sie sind schön. Aber was soll ich sagen über ihren Geschmack? ...

Ihr Geschmack ist tadellos, und das ist herrlich; aber er ist ganz einheitlich, und das ist schrecklich! Wenn der neugierig blickende Barbar dreißigmal und dreihundertmal und dreitausendmal dasselbe schöne Gesicht findet, dann beginnt er zu seufzen: „Wo ist die einzige, die Unverwechselbare?“ Er fragt, wo sie ist, die Frau, deren Schönheit nur einmal geboren wurde und mit ihr stirbt und vielleicht erst wiedergeboren wird in der nächsten Generation. Warum nur eine einheitliche Maske, hinter der so vielerlei Schönheit verborgen bleibt?

Ich stehe am Graben, will mich heilen lassen von dieser Stadt, die um mich herum ist und in mich eindringt. Unter meinen Füßen mahlt die Zeit die Steine des uralten Wien. Und ich fühle wieder die Ehrfurcht, die Bewunderung und auch das Mißtrauen meiner Ahnen, die sich nach dem Westen gewandt haben, und ich fühle die Kraft, der sie damals, vor tausend Jahren, noch keinen Namen geben konnten, und die wir heute -Barbaren und Nicht-Barbaren — Europa nennen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung