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Anne Frank war nicht allein

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Die Kampagne gegen die Echtheit ihrer Aufzeichnungen ist ein Indiz für die Virulenz neonazistischer und antisemitischer Strömungen in Österreich und Deutschland.

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Die Kampagne gegen die Echtheit ihrer Aufzeichnungen ist ein Indiz für die Virulenz neonazistischer und antisemitischer Strömungen in Österreich und Deutschland.

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Eine vollständige, textkritische, kommentierte Ausgabe der Tagebücher der Anne Frank — das ist zweifellos ein Unternehmen, das keiner besonderen Rechtfertigung bedürfte, denn diese Tagebücher zählen zu den berührendsten Dokumenten unseres Jahrhunderts.

Aber daß diese Ausgabe zur politischen Notwendigkeit wurde, ist ein Skandal im ursprünglichsten Sinn des Wortes: Ein Ärgernis. Es beweist die Virulenz der Relikte des Nazigeistes und damit des heutigen Antisemitismus.

Die in einschlägigen Kreisen verbreitete Behauptung, die Tagebücher seien ge- oder zumindest stark verfälscht, zählt zu den niederträchtigsten Verleumdungen der Opfer.

Verständlich ist er freilich, der

Haß der halben und ganzen Neonazis gegen dieses Buch, denn es hat möglicherweise mehr bewirkt als mancher Dokumentarfilm über die in Konzentrationslagern und Gettos begangenen Greueltaten. Während diese Filme jene, die sie sahen, vor allem entsetzten und daher bei vielen psychische Abwehr auslösten, wirkten die Tagebücher von Anne Frank als Einladung, sich mit dem pubertierenden Mädchen im Hintertrakt eines Amsterdamer Hauses zu identifizieren.

Ungezählte Menschen in aller Welt haben diese Einladung angenommen. Vor allem sehr viele junge Menschen. Viele haben erst beim Lesen der Briefe eines halbwüchsigen Mädchens an eine fiktive Freundin namens Kitty verstanden, was der Nationalsozialismus wirklich war.

Dadurch wurden die Tagebücher von Anne Frank zu einem der Bücher über die NS-Verbrechen, die sich nicht an den Verstand, sondern an das Herz wendeten und denen es gelang, einen gegen die Unmenschlichkeit gerichteten emotionalen Effekt zu erzielen. Und da der Nazismus ja zu einem guten Teil die niedrigsten Instinkte der Menschen ansprach und seine Relikte es noch genauso halten, sehen sie in der toten Anne Frank einen besonders gefährlichen Gegner. Angesichts einer Bewegung, die sich in kaum verschleierter Form zum Massen-

Verleumdungsversuche mord bekannte, darf sich freilich niemand wundern, wenn sich auch deren Nachfolger nicht zu gut für den Versuch sind, eine Ermordete noch einmal zu töten, indem man die Authentizität ihres Werks bestreitet.

Die neue Anne-Frank-Ausgabe beruht auf einer vom Niederländischen Staatlichen Institut für Kriegsdokumentation in Auftrag gegebenen Untersuchung des Gerichtslaboratoriums des holländischen Justizministeriums. Sie enthält in übersichtlicher, parallel lesbarer Form die beiden von Anne Frank durchaus mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung teils in Heften, teils auf losen Blättern niedergeschriebenen Versionen des Tagebuches sowie den 1950 publizierten Text. Besonders wichtig ist eine kleine Chronologie der gegen alle gerichtlichen Feststellungen beharrlich fortgesetzten Verleumdungsversuche, die ein besonders traurig stimmendes Kapitel in der Geschichte politisch motivierter menschlicher Niedertracht darstellen.

Auch österreichische Neonazi-Kreise haben sich an dieser Verleumdungskampagne eifrig beteiligt. Nur, wer ihre Mentalität nicht kennt oder nicht kennen will, kann sich darüber wundern, daß sie im Tagebuch der Anne Frank — wie wohl in der Wahrheit über die Nazis und deren Taten überhaupt—einen Angriff auf das deutsche Volk sehen. Ihren treuherzigen Bekundungen zufolge war ja sogar Auschwitz nur eine Art Sanatorium, in dem die SS-

Bewacher ihr Möglichstes taten, um die Häftlinge davon abzuhalten, sich gegenseitig zu mißhandeln und umzubringen.

So viel die Tagebücher Anne Franks bewirkten — sie bedürfen der Ergänzung durch zusätzliche Information. Zwei weitere Neuerscheinungen werden dieser Aufgabe gerecht. Das Buch „Meine Zeit mit Anne Frank“ von Miep Gies, welche die Familie Frank in ihrem Versteck mit Lebensmitteln versorgte und Annes Tagebuch rettete, ist ein wunderbares Dokument der Mitmenschlichkeit, Liebe und Treue. Nicht nur der Polizist, der das Versteck „aushob“, war Österreicher, auch Miep, der „gute Geist der Untergetauchten“, stammte aus Wien.

Dokument der Liebe

Es gab viele Annes in holländischen Verstecken — und viele Mieps. Von 1933 bis 1940 überschritten 50.000 deutsche und österreichische Flüchtlinge Hollands Grenzen. 30 von ihnen erzählen ihr Schicksal in dem Band „Anne Frank war nicht allein“. Die Holländer, „schwankend zwischen Hilfsbereitschaft und Uber-fremdungsangst“, halfen so großzügig wie allenfalls noch die Dänen. Unter dem österreichischen Nazi-Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart wurden 110.000 Juden aus Holland deportiert. Nur 5.450 kehrten zurück.

DIE TAGEBUCHER DER ANNE FRANK. Niederländisches Staatliches Institut für Kriegsdokumentation. Einführung von Harry Paape, Gerold van der Stroom und David Barnouw, Ubersetzung Miriam Pressler. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1988.792 Seiten, Fotos, Faksimiles, Ln., öS 764,40.

MEINE ZEIT MIT ANNE FRANK. Von Miep Gies. Scherz Verlag, München 1987. 256 Seiten, Ln., öS 298.-.

ANNE FRANK WAR NICHT ALLEIN. Le-bensgeschichten deutscher Juden in den Niederlanden. Von Volker Jakob und Annet van der Voort. J. H. W. Dietz, Berlin 1988.255 Seiten, Tb., öS 154,50.

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