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Antike als Maß

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„Noch nie hat eine Musik mich so rein und schön bewegt als diese“, schwärmt Schiller 1801 in einem Brief an Körner. „Es ist eine Welt der Harmonie, die gerade zur Seele dringt und in süßer, hoher Wehmut auflöst“: Emphatische Worte über „Iphigenie auf Tau-ris“, die von Gluck in Paris 1779, in den gleichen Wochen, vorbereitet wurde, in denen Goethe sein „Iphigenie“-Drama in Weimar zum ersten Mal aufführte.

„Iphigenie“, das Musterbild der „schönen Seele“, wurde Schlüs-

selfigur der Epoche. Mögen da auch mehr „edle Einfalt“ und weniger „stille Größe“ die konservativere Glucksche Priesterin von Goethes Repräsentantin der klassischen Welt trennen — Menschen, denen „ein edles Herz den Busen erwärmt“, sind beide. Durch sie stellt der Opern- und Geschmacksreformator Gluck die klassische Humanitas für die Epoche des Klassizismus am sinnfälligsten dar, durch sie kämpft er gegen erstarrtes barok-kes Pathos und sinnentleerte Arabeskenkunst des Rokoko und für die Ideale des „neuen Griechentums“ eines Johann Joachim von Winckelmann.

In der Musikwelt wird Christoph Willibald Ritter von Gluck, der 1714 in Erasbach in der Oberpfalz geboren wurde, Hofkomponist der Kaiserin Maria Theresia war und am 15. November vor zweihundert Jahren in Wien als hochgeehrter Meister starb, allerorten mit Neuinszenierungen gefeiert: an der Frankfurter Oper mit „Iphigenie auf Tauris“ und „Iphigenie in Aulis“, in der Wiener Staatsoper hat „Iphigenie in Aulis“ in der originalen Pariser Fassung am Todestag Glucks Premiere. Das Wiener Konzerthaus und das Salzburger Fest in Hellbrunn führten seine Oper „Tele-maco“ bereits im Sommer auf, in Paris bemüht man sich um „Orpheus und Eurydike“. Rudolf Gerbers und Gerhard Crolls wissenschaftliche Gesamtausgabe der

Werke Glucks hat bei einem geplanten Umfang von fünfundfünfzig Bänden immerhin den entscheidenden Stand von fast zwei Dutzend Bänden erreicht.

Das Gluck-Bild der Gegenwart wurde durch diese Ausgabe zwar nicht verändert, bei den verschiedenen Wiener und Pariser Fassungen der Musikdramen „Orpheus“, „Alceste“, der „Iphigenien“ wurden indessen wichtige Korrekturen vorgenommen. Da wurden Erstfassungen, Varianten und Fragmente erstmals berücksichtigt, Alternatiworschläge zu den einzelnen Nummern und kritische Berichte beachtet.

Für Dirigenten, Regisseure und Sänger, die sich heute an Gluck wagen, bedeutet das, daß sie erstmals Gluck original aufführen können. Jede Epoche hatte der Mode entsprechend tiefgreifende Änderungen an Glucks Schaffen vorgenommen, die krasseste davon Richard Wagner, der 1847 „Iphigenie in Aulis“ nicht nur uminstrumentierte, sondern durch eine Entrückung Iphigenies auf die Insel Tauris einen Ubergang zur Oper „Iphigenie auf Tauris“ schuf.

Was bedeutet uns heute das Reformwerk Glucks? Gerade eine gelungene Neuinszenierung macht nachvollziehbar, was der Komponist mit seiner Idee von den „lebendig gewordenen Standbildern der Antike“ meinte, bei der er weniger von der Instrumentalmusik ausging als vom Gefühl und der Ausdruckskraft der Sänger, die den antiken Mythos in ein modernes Seelendrama mit psychologischen (Schlüssel-)Mo-menten ummünzten.

So wird etwa in Eurydikes Arie „Welch furchtbare Schmerzen“ ein im Mythos zunächst völlig unbekanntes Motiv der Eifersucht eingeführt, deren Steigerung Orpheus bis zu jenem Punkt treibt, an dem er zurückblicken muß — und will. Ein erster Fall moderner Todessehnsucht? Eine Elsa, die Tabus bewußt verletzt? Ein Fall für den Psychiater? Gluck hat da einen Weg gewiesen, der dem Musiktheater bis zur Gegenwart seine entscheidende Motivation geliefert hat: die Psychologie des Musikdramas.

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