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Digital In Arbeit

Arbeit formt Persönlichkeit

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Die alten Philosophen bedienten sich, um ihre Theorien zu veranschaulichen, oft einer Fiktion, eines erdichteten Beispieles. Eine Fiktion ist imstande, abstrakte Gedankengänge näherzubringen, das Gefühl der Plausibilität oder sogar das der Evidenz zu bewirken.

Auch diesmal soll ein solches erdichtetes Beispiel beim Leser den Eindruck des „So ist es“ erreichen:

In Österreich wird im Jahre 1881 von Meinungsforschungsinstituten eine repräsentative Umfrage durchgeführt, um Informationen über die Lebensqualität der Bevölkerung zu gewinnen.

Den Mittelpunkt der Untersuchung bildet ein Komplex, in dem die Befragten aufgefordert werden, alle Ursachen anzugeben, die ihnen in den letzten zwölf Monaten Kummer, Leid und Sorgen bereitet haben und durch die sie zeitweilig oder dauerhaft an ihrem Lebensglück gehindert wurden.

Die Antworten zu diesem Fragenkomplex ergaben ein breites Spektrum: Tod (von eigenen Kindern, Angehörigen, lieben Menschen), Mangel an Nahrung, an Kleidung, an Wohnraum, an Heizung, an ärztlicher Versorgung, Liebeskummer, erduldetes Unrecht.

Um diese Vielfalt überschaubarer zu gestalten, wurden die Antworten in zwei Kategorien geordnet: Einerseits Mangel an Sachgütern bzw. Leistungen, andererseits mangelnde bzw. gestörte zwischenmenschliche Beziehungen.

Diese Untersuchung wurde im Jahre 1981 von den gleichen Meinungsforschungsinstituten wiederholt. Der Vergleich der ^Ergebnisse von 1881 und 1981 zeigt, daß die Ursachen menschlichen Leids und Kummers zwar die gleichen geblieben sind, daß jedoch in der Häufigkeit der Antworten von der Kategorie „Mangel an Sachgütern und Leistungen“ eine Verschiebung zur Kategorie „mangelnde bzw. gestörte zwischenmenschliche Beziehungen“ stattgefunden hat.

Bis hierher das erdichtete Beispiel, womit die These veranschaulicht werden soll, daß heutzutage in Österreich und in den entwickelten Industriestaaten allgemein die Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich liegen, wohingegen der Mangel an Gütern in den letzten 100 Jahren im großen und ganzen behoben werden konnte.

Zweifelsohne werden die Störungen im zwischenmenschlichen Bereich durch Mangel an bestimmten menschlichen Qualitäten verursacht. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von nicht ausreichender sozialer Kompetenz.

Soziale Kompetenz kann unmöglich wertfrei definiert werden, sodaß es auch keine für alle gültige Definition dazu geben kann. Einige Facetten zur Beschreibung gelten also nur für den Verfasser dieser Zeilen, der sich offen dazu bekennt.

Soziale Kompetenz bedeutet das volle Bewußtsein dessen, daß man Mitglied einer Gemeinschaft ist; das Vorhandensein von Strategien, die eigenen Schwierigkeiten mit Hilfe der anderen und nicht gegen sie lösen zu können;

Verständnis für die Schwierigkeiten anderer zu haben und bereit zu sein, bei der Lösung dieser Schwierigkeiten behilflich zu sein, aus dem Wissen heraus, daß diese Hilfe unmittelbar oder mittelbar wieder einem selbst zugute kommt.

Darüber hinaus bedeutet soziale Kompetenz jedoch auch Emotionalität - altmodisch: Zuneigung - zum Nächsten, liebevolle Rücksicht zu anderen Menschen.

Das, was wir benötigen, ist also soziale Kompetenz. Mit dem „Rohstoff* dazu kommen wir schon zur Welt. Das Elternhaus und die Schule sind die im allgemeinen anerkannten Stationen der Persönlichkeitsentfaltung, in deren Rahmen sich auch soziale Kompetenz entwickelt.

Nicht beachtet - oder nicht ausreichend beachtet - wurde lange Zeit die wichtige Rolle, die die Arbeit im Zuge der Persönlichkeitsbildung spielt.

Neue Untersuchungen bestätigen immer mehr, daß die Arbeitstätigkeit und die Umstände ihrer Ausführung persönlichkeitsformend wirken, wobei sowohl negative als auch positive Auswirkungen bekannt sind. Merkmale der Arbeitssituation korrespondieren mit Persönlichkeitseigenschaften und so auch mit der Entwicklung der sozialen Kompetenz.

Es konnten eine Reihe von Merkmalen der Arbeitssituation gefunden werden, die die Entwicklung der sozialen Kompetenz fordern: Tätigkeiten, bei denen der Arbeitnehmer den Sinn seiner Arbeit erkennt, seinen Arbeitsablauf weitgehend selber plant und den

Einfluß seines Wollens und Könnens auf das Resultat abschätzen kann; Arbeiten, in denen mehrere Arbeitnehmer in gegenseitiger Absprache miteinander in Form von teilautonomen Gruppen agieren, tragen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Heranbildung bzw. Festigung von sozialer Kompetenz bei, wobei solche Arbeiten gleichzeitig auch die für unsere Wirtschaft so wesentliche Qualifikation fördern.

In welcher Hinsicht die Gestaltung der Arbeit mit der Entfaltung der Persönlichkeit des Arbeiters zusammenhängt, dieser Frage wird heute auch im Bereich der Forschung erhöhte Aufmerksamkeit zugewendet. Langsam setzt sich nämlich die Überzeugung durch, daß die Humanisierung der Arbeit nicht gewissermaßen ein Luxus ist, den sich der Sozialstaat gegen alle wirtschaftliche Vernunft leistet.

Einen Beitrag zur positiven Entfaltung des Menschen zu liefern, bringt nämlich langfristig auch wirtschaftliche Erfolge.

Welche Bedeutung diesem wichtigen Aspekt heute beigemessen wird, geht auch daraus hervor, daß der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung immerhin 18 Millionen Schilling für den Projektschwerpunkt „Arbeitsorganisation: Menschengerechte Arbeitswelt“ bewilligt hat.

Gesundheitsschutz des Arbeiters und Förderung seines Wohlbefindens am Arbeitsplatz waren schon bisher traditionelle Zielsetzung arbeitswissenschaftlichen Gestaltens.

Heute geht es jedoch vor allem darum, jene Bedingungen zu erkennen und in der Praxis zu realisieren, die dem Aspekt der Persönlichkeitsförderlichkeit vermehrt Rechnung tragen.

In der Zukunft gilt es, die Arbeit nicht nur so zu gestalten, daß dem menschlichen Bedarf an Gütern und Leistungen Rechnung getragen wird, sondern auch, daß der Nachholbedarf an menschlichen Qualitäten besser erfüllt werden kann.

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