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Arbeit für die Geschichtsbücher

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Am Schluß einer seiner letzten Wahlreden, irgendwo im Mittelwesten, wurde der demokratische Kandidat McGovern von einem Nixon-Anhänger gestellt, der ihm in eher drastischen Worten prophezeite: „Senator, er (Nixon) wird Sie so verprügeln, daß Sie wünschen werden, Sie wären in Süddakota gehlieben.“ Es war einer der seltenen Momente, in denen der salbungsvolle Prärieprediger McGovern seine Fassung verlor. Er beugte sich zu dem Interpellanten und flüsterte ihm das Götz-Zitat ins Ohr. Der ungenannte Republikaner allerdings hat am 7. November 1972 recht behalten. Das Ausmaß von Nixons Sieg wurde in der amerikanischen Geschichte bloß zweimal überboten — einmal durch George Washington und einmal durch Franklin D. Roose-velt. Nixon gewann alle Wahlstimmen des Landes mit Ausnahme jener des Staates Massachusetts und der überwiegend von Negern bewohnten Hauptstadt Washington (District of Columbia).

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Am Schluß einer seiner letzten Wahlreden, irgendwo im Mittelwesten, wurde der demokratische Kandidat McGovern von einem Nixon-Anhänger gestellt, der ihm in eher drastischen Worten prophezeite: „Senator, er (Nixon) wird Sie so verprügeln, daß Sie wünschen werden, Sie wären in Süddakota gehlieben.“ Es war einer der seltenen Momente, in denen der salbungsvolle Prärieprediger McGovern seine Fassung verlor. Er beugte sich zu dem Interpellanten und flüsterte ihm das Götz-Zitat ins Ohr. Der ungenannte Republikaner allerdings hat am 7. November 1972 recht behalten. Das Ausmaß von Nixons Sieg wurde in der amerikanischen Geschichte bloß zweimal überboten — einmal durch George Washington und einmal durch Franklin D. Roose-velt. Nixon gewann alle Wahlstimmen des Landes mit Ausnahme jener des Staates Massachusetts und der überwiegend von Negern bewohnten Hauptstadt Washington (District of Columbia).

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Zugleich aber fallen in den Triumph der Eepublikaner Wermutstropfen, da sie trotz dieses Erdrutsches ihre Stellung in den parlamentarischen Körperschaften oder in den Gouverneurspositionen kaum verbessern konnten. Nixon wird daher auch in Zukunft mit einem demokratischen Kongreß zusammenarbeiten müssen. Zunächst sollte das keine Schwierigkeiten bereiten. Denn das Mandat für den Präsidenten ist so laut und klar, daß es kein Parlamentarier überhören kann. Aber Senatoren bleiben sechs Jahre, also zwei Jahre länger im Amt als der Präsident und niemand kann für 1976 Prognosen stellen. Der Wähler der Demokraten hat also die Trennung der Gewalten streng im Auge behalten und überwiegend für demokratische Parlamentarier gestimmt — vielleicht auch, um seinen Abfall zu Nixon zu kompensieren. Die Parteiführer der Demokraten behaupten daher mit Nachdruck, die Demokratische Partei sei noch intakt.

Woraus setzt sich nun Nixons Sieg zusammen? Für den oberflächlichen Betrachter stehen oft vordergründige Überlegungen obenauf. Fernsehen und publizistische Medien anderer Art projizieren die äußeren Umrisse einer politischen Persönlichkeit, die sich ihr eigenes Bild zurecht gemacht hat. Sympathisch oder abstoßend, guter oder schlechter Redner — sind daher nicht zu übersehende Faktoren, vor allem bei weiblichen Wählern. Dennoch stehen sie in der Analyse dieses Sieges weit zurück.

Denn McGovern ist weder unsympathisch noch ein schlechter Redner. Und Präsident Nixon ist noch immer gehemmt, ein flacher Redner und trotz des Erdrutsches kein Mann, dem die Herzen zufliegen. Der Titel eines Leitartikels: „Der unpopuläre Erdrutsch“ ist daher nicht ganz schlecht gewählt. McGovern ist allerdings auch der Typ des zelotischen Predigers, der, im Übermaß genossen, auf die Nerven geht; seine Reden und Angriffe kristallisieren sich um „das“ Gute und „das“ Böse. Als sich der

WaMkampf zuspitzte, wurde Nixon in der Sicht McGoverns zur Inkarnation des Bösen, zumindest zu einem Katalysator, der das Schlechteste aus den Menschen hervorholt. Das klang alles unecht und übertrieben und hat viele Wähler abgeschreckt. Überdies verbindet sich dieses Zelotenbild mit persönlicher Unentschlossenheit, schwankenden Versprechungen je nach Opportunität und einem gewissen Grad von Naivität.

McGovern war also sicher kein starker Kandidat, was das Äußerliche betrifft. McGovern wurde jedoch nicht als persönlich unattraktiver Kandidat geschlagen, sondern als Exponent der radikalen Linken, un-ausgegorener Reformideen und als Advokat einer neuen Gesellschaftsordnung. Nixon dagegen war der Garant des Status quo, einer Situation, die eine überwältigende Mehrheit für ausreichend findet und an der nach ihrem Willen nicht herumgedoktert werden soll, schon gar nicht von Unqualifizierten.

Der massive Abfall der Demokraten zu Nixon rekrutierte sich in erster Linie aus dem Lager der weißen manuellen Arbeiter, die man hier „blue collar worker“ nennt. Diese Schichte hat es in den letzten zehn Jahren zu Wohlstand und gehobener Existenz gebracht, sie unterschreibt bedenkenlos den Slogan: „You never had it so good“ besonders angesichts einer halbierten Inflationsrate — derzeit unter 3 Prozent — und einer stark aufstrebenden Wirtschaft.

Der blue collar worker steht auch ideologisch zu den Segnungen des Kapitalismus und stellt sich entschieden gegen die linken Intellektuellen, ihre äußeren Erscheinungsformen und — wie er auch meint — ihre unpatriotische Gesinnung, vor allem in der Vietnamfrage. Das Chaos und die Spannung der Großstädte hat ihn in die Vororte getrieben, er besitzt ein Einfamilienhaus auf Abzahlung und steht in Abwehrstellung zu den Negern, weil diese nicht bloß seine wirtschaftliche Stellung bedrohen, sondern das ganze Gebäude, das er sich gezimmert hat. In Suburbia werden seine Kinder in öffentlichen Schulen mehr oder weniger segregiert erzogen, denn dort wohnen fast keine Neger. Es gelang ihm, die Gewerkschaftsführung in diesem Wahlkampf zur Neutralität zu zwingen — manche lokale Funktionäre unterstützten Nixon auch offen. Zunächst, im Wahlkampf 1968, hatte er George Wallace, den aggressiven, politisch tüchtigen Populistenführer aus Alabama gewählt. Mit dessen Eliminierung durch ein Attentat fiel seine Stimme jedoch wie eine reife Frucht in Nixons Sack.

Man kann das Phänomen blue collar worker ganz deutlich an der dramatischen Zunahme der katholischen Stimmen im vorigen Wahlergebnis ablesen, da dieser Arbeitertypus seiner Nationalität nach meist den Italienern, Iren oder Osteuropäern zuzuzählen ist. Dieses politische Element wird wohl bei den Republikanern verbleiben, vor allem dann, wenn die Demokraten 1976 wieder einen Kandidaten der Linken nominieren sollten. Der Arbeiterkleinkapitalist ist also in den Staaten ein wesentlicher Bestandteil der bürgerlich orientierten Repulikani-schen Partei geworden, womit die berühmte demokratische Koalition, bestehend aus Negern, Arbeitern und „Unterprivilegierten“, zumindest auf der Präsidentschaftsebene zerbrochen ist.

Es ist richtig, daß diese Entwicklung zu einer Polarisierung des Landes führen kann und daß viele Kommentatoren den Ausgang dieser Wahl auf hintergründige Rassenvorurteile zurückführen. Das „busing“, die zwangsweise Verbringung von Kindern in entfernter gelegene Schulen, um eine Integration in der Schulklasse herbeizuführen, wurde zumindest offen diskutiert und Präsident Nixons Ablehnung dieses Zwanges war äußerst populär. Aber die Angriffe auf das „Wohlfahrtschaos“, das vor allem in den von Demokraten beherrschten Städten grassiert, haben zweifellos rassistisehe Untertöne. Denn es sind in erster Linie Neger und Puertoricaner, die von sozialen Renten aller Art leben, wodurch das Gefühl entsteht, daß die Arbeitenden die Faulenzer aushalten müssen. Angesichts einer fünfprozentigen Arbeitslosigkeit ist das sicher ein ebenso übertriebenes Vorurteil wie die Auffassung, daß alle Rentenempfänger arbeiten würden, wenn sie einen Job hätten. Das Drogenproblem, die Unsicherheit in den Straßen, das alles waren gewiß brisante Wahlthemen — und überall schwingt ein Rassenvorurteil mit. Es ist selbst in der Diskussion um die Zukunft der vielen tausend Kriegsdienstverweigerer oder um die Legalisierung der Abtreibung enthalten.

Präsident Nixon ist sich dieser Problematik bewußt. In seiner Dankesadresse stellte er das Vereinende über das Trennende und betonte, er habe sich aus dem täglichen Wahlkampf herausgehalten, weil er die Spannung im Lande nicht erhöhen wollte. Tatsächlich hatte er seit seiner Rückkehr aus Moskau nur selten das Weiße Haus verlassen und mancher republikanische Kandidat wäre vermutlich heute Sieger, hätte Nixon in seinem Wahlbezirk mit ihm gemeinsam geworben. Dem Taktiker Nixon ist jedoch auch sicher nicht entgangen, daß sich McGovern im luftleeren Raum bewegte, in seinen eigenen Widersprüchen immer mehr verstrickte, wogegen er selbst durchseine Abwesenheit dem Gegner jegliche Resonanz raubte.

In den nächsten vier Jahren haben wir es aber nun mit einem sozusagen unpolitischen Nixon zu tun. Da der Präsident bloß einmal wiedergewählt werden kann, arbeitet er in seiner zweiten Amtsperiode für die Geschichtsbücher. Sicherlich wünscht er sich 1976 einen republikanischen Nachfolger. Aber seine Entscheidungen könnten auch unpopulär sein, wenn längerfristige Ziele angepeilt werden müssen. Eine weitere Stärkung des arbeitenden Mittelstandes auf Kosten der hohen Einkommen ist somit ebensowenig ausgeschlossen wie eine konziliantere Politik gegenüber den Schwarzen. Versöhnung wird groß geschrieben werden. Nixon möchte zuletzt noch als der große Friedenspräsident in die Geschichte eingehen.

Da Nixon in erster Linie Außenpolitiker ist, werden wohl von dorther auch die Impulse kommen. Es steht außer Frage, daß die Konsolidierung der innenpolitischen Lage, die zu Beginn der Amtsperiode des Präsidenten noch durch brennende Gettos und Schießereien auf den Universitäten gekennzeichnet war, durch den Pekingbesuch stark beeinflußt wurde. Eine an sich selbst zweifelnde Nation, die das Vietnamproblem nicht zu bewältigen vermochte, erkannte plötzlich, daß sie immer noch eine Großmacht ist. Sie bemerkte zu ihrem größten Erstaunen, daß sowohl Peking als auch Moskau vor allem die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Washington höher einschätzen als einen totalen kommunistischen Sieg in Vietnam und daß daher die Verminung der nordvietnamesischen Häfen und die schwere Bombardierung des Norden von den beiden kommunistische Kapitalen „ohne Wimpernzucken“ hingenommen wurden. Plötzlich waren Nixon und sein außenpolitischer Architekt Kissinger Zauberer, und nicht Hasardeure, und die Nation begann sich an ihren eigenen außenpolitischen Erfolgen aufzurichten.

Daher hat man es jetzt auch mit einer Beendigung des Vietnamkonfliktes weniger eilig und hofft, eine permanente Lösung erreichen zu können. Hanoi hat sein Druckmittel, die Wahl von 7. November, eingebüßt und Washington strebt eine kodifizierte Klärung des bereits abgeschlossenen Rahmenvertrages mit Hanoi samt kleineren Verbesserungen für Saigon an. Nixon weiß, daß man bei solchen Verträgen nichts einer kommunistischen Interpretation überlassen darf und strebt Narrensicherheit an. Die sowjetische Schwäche auf dem Ernährungssektor und der Hunger Pekings nach Konsumgütern geben dem Präsidenten Kompensationsmöglichkeiten für seine Abrüstungs- und Sicherheitspolitik.

So beginnt Präsident Nixon seine zweite Amtsperiode mit einem enormen Vertrauensvorschuß des Elekto-rats. Seine oft angezweifelte Persönlichkeit umgibt nun der Nimbus einer einzigartigen politischen Karriere, die von totaler politischer Niederlage im Kampf um den Gouver-neurspositen von Kalifornien zum drittgrößten Wahlsieg der amerikanischen Geschichte führte.

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