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Architektur der Hoffnung?

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Eröffnet dieser Bau der Wohnhaus-Architektur neue Perspektiven? Mit lebhaften Diskussionen und fassungslosem Kopfschütteln reagierten manche Besucheram „Tag der offenen Tür“.

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Eröffnet dieser Bau der Wohnhaus-Architektur neue Perspektiven? Mit lebhaften Diskussionen und fassungslosem Kopfschütteln reagierten manche Besucheram „Tag der offenen Tür“.

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Natürlich weiß beinahe schon jeder Wiener, daß in der Löwengasse, im dritten Wiener Gemeindebezirk, das „Hundertwasser-Haus“ entsteht — wurden doch jede Phase der Entstehungsgeschichte, alle damit verbundenen Schwierigkeiten, Kämpfe und Siege werbewirksam von allen Medien weit über Wien und Österreich hinaus verbreitet und in zunehmendem Maße positiv kommentiert. Es war daher vorauszusehen, daß am „Tag der offenen Tür“ sich viele Wiener einstellen würden, um das Gebäude selbst in Augenschein zu nehmen, dabei wurden alle Erwartungen übertroffen.

Der Bau steht, wie ein Gebilde aus einer anderen Welt, zwischen normalen, kultivierten und sich aneinander ordnenden Gebäuden. Wo immer man das neue Haus betrachtet, erlebt man Überraschungen. Das ganze Vokabular möglicher und über alle Kulturen verstreuter Architektur-, Färb- und Zierformen ist hier zu finden: Arkaden, Balkone, Loggien, Freitreppen, Durchgänge, Türme, Bögen, Gartenterrassen, ganz verschiedene Fensterformen, wellige Boden- und Wandflächen, Mosaike, Zierbänder, Ziergitter und Bäume auf Hügeln, Terrassen und aus Fenstern.

Um alle Zweifel auszuschalten: es handelt sich hier um einen Gemeindebau und nicht etwa um das Lustschloß eines steinreichen Sonderlings. Die Frage, wie trotz vieler Vorschriften und strenger Überwachung der „Stadtgestalt“ ein derartiger Ausbruch über alle Konventionen hinweg stattfinden konnte, ist daher legitim.

Ich glaube, daß dabei mehrere Faktoren zusammenwirkten: Hundertwasser ist die Möglichkeit, endlich seinen Traum einer Architektur, in der der Mensch „frei“ ist, zu verwirklichen, nicht in den Schoß gefallen. Seit dem

„Verschimmelungs-Manifest“, das er am 4. Juli 1958 in der Abtei Seckau verlesen hat, ist er immer lauter und eindringlicher für eine von Konstruktion, Funktion und linealer Anordnung gelöste freie Architektur eingetreten. Diese könne nur entstehen - so Hundertwasser —, wenn die zerstörte Einheit von Architekt-Maurer-Bewohner wiederhergestellt würde. Dazu kommt das allgemein spürbare Unbehagen an der sogenannten zeitgemäßen Archi tektur, das in der Folge viele Alternativplanungen auslöste und schließlich dazu führte, daß auch Hundertwasser seine Chance bekam.

Ein bereits aufliegendes Buch, durchgehend vierfarbig illustriert, 300 Seiten stark, Ladenpreis 1600 Schilling, gibt genaue Auskunft über den schwierigen Weg, über die Zusammenarbeit zuerst mit Architekt Krawina, dann mit Architekt Pelikan, über die Freude der Bauarbeiter, auch über Entwicklung und Zuordnung der kaum mehr überschaubaren Zahl aller Gestaltungselemente.

Wenn man jetzt den fertigen Bau betrachtet, ihn beim Durchwandern zu begreifen sucht, tauchen viele Fragen auf:

Kann man tatsächlich einen Traum verwirklichen? Sind Traum und Wirklichkeit nicht zwei verschiedene Welten? Fast ist es so, als wollte man ein Märchen plötzlich selbst erleben. Daher das Gefühl, hier vor einem „Märchenschloß“ zu stehen, daher die Freude der Kinder, die Fröhlichkeit, die Heiterkeit einer Spielwiese. Das stimmt schon alles. Aber: Immerhin handelt es sich um einen sozialen Wohnbau mit 50 Wohnungen. Wo bleibt Hundertwassers klar und eindeutig formulierte Forderung nach der Identität der Dreieinigkeit Ar chitekt-M aurer- Bewohner ? Wie kann hier der Bewohner noch die geforderte Freiheit finden in einer durch und durch von Hundertwasser getränkten Umwelt?

„Das erste freie Haus“ nennt Hundertwasser sein Bauwerk. Was heißt aber wirklich frei, was heißt hier Freiheit? Heißt das, daß alles Machbare wirklich gemacht werden darf? Und es wird in diesem Fall ja auch tatsächlich gemacht - manchmal um des spielerischen Probierens willen, manchmal aus bloßer Leidenschaft fürs Extreme. Die Sensation rechtfertigt dann die Mittel. Die Ideologie, die hier spürbar wird, ist nicht unbedenklich. Sie läßt moralische Kompetenz außer acht.

Wünschenswert wäre auch, wenn man Bäumen eine ähnliche Freiheit wie den Menschen zugestehen würde. Ein schräg aus einer Loggia wachsender Baum kann im Einzelfall so etwas wie ein Protestakt sein. Auf keinen Fall sollte er Wiederholung finden.

Es ist sehr zu hoffen, daß dieses Haus wie ein Katalysator wirken wird, ein Objekt, das Denkanstöße veranlaßt, das zum Nachdenken zwingt und hilft, auf der Suche nach neuen Wegen den richtigen zu finden. Möge viel Grün, das in Spuren reichlich vorhanden ist, in den nächsten Jahren den noch etwas fehlenden Zusammenhang verweben.

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