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Argentiniens schwerer Weg

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Buenos Aires, mit seinen noblen Avenidas und den Prachtbauten um die Jahrhundertwende, hat wieder den mondänen Glanz, der ihm den Namen „Paris Lateinamerikas” eingebracht hat. Mit Hunger saugt die Metropole jetzt auf, was die Jahre der Militärdiktatur verboten hatten: Die Kinos spielen Marlon Brandos „Letzten Tango” (was einige Kreise wieder nach Zensur rufen läßt); die Theater bringen jene kritischen Stücke, die außerhalb des Landes uraufgeführt werden mußten; die Galerien holen die Künstler heim, deren Werke verfemt waren.

Ein Jahr, nachdem Raul Alfonsin in spektakulärem Sieg die Präsidentschaft angetreten hat, lä\uft der demokratische Prozeß vorbildlich, ist Alfonsins internationales Ansehen groß. Und doch steht das große Land vor Schwierigkeiten, die unbewältigbar scheinen.

Aber zunächst die Erfolge — gerade deswegen, weil sie über die internen Probleme Argentiniens hinwegsehen lassen.

Bereits wenige Monate, nachdem Alfonsin die Kommission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen unter dem Militärregime eingesetzt hatte, lag im September (seit Ende November auch allgemein zugänglich) ein mehr als 1000 Seiten umfassender Bericht über Ausmaß, Art und Weise der Greueltaten der Repression vor.

Zu den durch die Kommission geklärten Schicksalen von mehreren Hunderten umgebrachten Mißliebigen nennt der Report 8.960 Personen, deren Verbleib bis heute unbekannt ist. Vermutet wird, daß sie in einem der 340 geheimen Lager verschwunden und einen der Foltertode gestorben sind, welche der Bericht dokumentiert. Als Antwort auf das schamlose Ausufern der staatlichen (militärischen) Gewalt wurde bereits Ende Oktober ein Gesetz beschlossen, das Folter an Häftlingen ebenso wie die schweigende Mitwisserschaft mit Strafen bis zu lebenslangem Gefängnis beantwortet.

Auch der seit hundert Jahren mit Chile schwelende Konflikt um drei Inselchen im Beagle-Kanal an der Südspitze des Kontinents konnte unter der Verwaltung Alfonsin gelöst werden. Sein Verhandlungsteam unter Außenminister Dante Caputo schaffte in Rom, wo der Vatikan seit sechs Jahren als Vermittler tätig ist, den Durchbruch.

Die Argentinier dankten es ihrem neuen Präsidenten überschwenglich: 73,2 Prozent der Wahlberechtigten gingen Ende November zum Referendum über den ausgehandelten Vertrag; 77 Prozent stimmten mit „Ja” — der Aufruf der Peronisten zum Wahlboykott blieb unbeachtet.

Dieser Erfolg Alfonsins darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ihm nicht gelungen ist, die bündelweise anfallenden internen politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu lösen. In der zersplitterten Parteienlandschaft, in der die Peronisten noch immer eine gewichtige Rolle spielen, schaffte er den überlebensnotwendigen Konsens nicht. Auch muß er — wider Wahlversprechungen - der Bevölkerung immer neue Opfer abfordern, will er das endlich durch seinen quirligen Finanzminister Grinspun ausgehandelte Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds erfüllen und den mit US-Banken getroffenen Zwischenfinanzierungspakt einhalten.

Streiks, Unrast und Protest werden nicht zu vermeiden sein. Denn eine expansive Geldpolitik (die Inflation beträgt 600 Prozent im Jahr), die der Bevölkerung nicht so viel abverlangte, darf sich Argentinien am Rande des Bankrotts nicht leisten. Das Abkommen mit dem Fonds sieht — im Gegenteil - eine Reduzierung des

Budgetdefizits von 11,4 Prozent des Bruttonationalproduktes 1983 auf 8,1 heuer und 5,4 Prozent im kommenden Jahr vor.

Ein weiteres Problem ist und bleibt das Militär. Hoffte Alfonsin, nachdem er einige Pensionierungen und Rochaden in den Spitzenpositionen vorgenommen hatte, auf einen Selbstreinigungsprozeß und übergab deshalb die Generäle des vergangenen Regimes dem obersten Militärtribunal, so machte ihm eben dieser Gerichtshof jüngst einen bösen Strich durch die Rechnung: Er erklärte, daß alle Befehle die zwischen 1976 und 1983 erlassen worden sind, als legal gelten dürfen.

Intellektueller Aderlaß

Noch sind einige Generäle und mehrere Offiziere, gegen die ja auch straf- und zivilrechtliche Verfahren laufen, in Haft. Ob sich Alfonsin zwischen dem berechtigten Bedürfnis nach Bestrafung der Verbrecher in Uniform und der um sich greifenden Verfemung der Armee schlechthin ohne Schaden durchhanteln kann, ist ungewiß.

Der Präsident und seine Mannschaft müssen sich zudem mit einer Erbschaft herumschlagen, die den Wiederaufbau auf das schwerste belastet. Argentinien, in den fünfziger und sechziger Jahren ein Land von künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität, erlebte ab 1966 einen dauernden Aderlaß:

3000 Wissenschaftler verließen damals das Land, nachdem die Militärs die Universität von Buenos Aires überfallen hatten; acht Jahre später entließen die Peronisten Tausende Intellektuelle; der größte Verlust kam dann unter den neuen Militärs, die zwischen 1976 und 1983 zusätzlich zu jenen, die selber aus dem Land flüchteten, Tausenden kündigten.

Heute liegt nicht nur die Hochschulbildung im argen, sondern auch das gesamte Schulwesen leidet, die Analphabetenrate ist wieder im Steigen. Und der Regierung fehlen einfach die Fachleute, um mit Bildungs- und Wirtschaftsfragen fertigzuwerden.

Die US-Zeitschrift „Newsweek” formulierte das kürzlich so: „Gesucht: Exilierte argentinische Wissenschaftler zum Wiederaufbau der Nation. Demokratische Regierung umwirbt Allein-Starter, die bereit sind, akademische Spitzenpositionen im Auslandaufzugeben ... niedrige Entlohnung, aber großes Potential ...”

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