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Aribert Reimanns „Lear“ im Nationaltheater

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Die Münchner Opernfestspiele 1978 wurden mit der Uraufführung des „Lear“ eröffnet, einem Werk, das Aribert Reimann als Auftragsarbeit für die Bayerische Staatsoper schrieb, angeregt von Dietrich Fischer-Dieskau und eingerichtet von Claus H. Henneberg. Schon Verdi hatte den Plan, Shakespeares „Lear“ zu vertonen, ließ aber wieder davon ab. Mußte vielleicht erst eine Zeit heranreifen, in der die schier unbegrenzten Mittel eines musiktheatralischen Pluralismus Gestaltungsmöglichkeiten für einen Läuterungsprozeß solchen Ausmaßes verfügbar sein würden? Die unbarmherzige Katharsis ist das Thema dieser Tragödie und Reimann hat hier sehr genau aus dem Kern des literarischen Vorwurfs heraus seine musikalische Konzeption entworfen. Wie über diesen König durch das Verstoßen der Lieblingstochter Cordelia der ganze Weltschmerz hereinbricht, ein Weltschmerz, der nur im Wahnsinn noch Erlösung findet, das erfordert eine Partitur, in der sich Schonungslosigkeit und Mitgefühl paaren.

Reimann versteht es, die Spannung zwischen den heftigsten Klangeksta-seh und lyrischen Passagen zu halten, und immer achtet er auf die menschliche Stimme, räumt ihr innerhalb abstraktester Gebüde eine gewisse Entfaltungsmöglichkeit ein. Von den vielfach geteüten Streichern und den Klangtrauben der Bläserkaskaden bis zu einem Riesenaufgebot an Schlagzeug ist alles im Einsatz, und strenger Zwölftonsatz wechselt mit völlig freier Anwendung harmonischer und disharmonischer Praktiken.

An dieser Stelle muß der Librettist Claus H. Henneberg genannt werden, ihm ist eine Textfassung gelungen, die Shakespeares „Lear“, ohne Substanzverlust noch einmal verdichtet. Uber die Wiedergabe kann in Superlativen berichtet werden: Jean-Pierre Pon-nelle hat in seiner szenischen Konzeption eine beinahe unheimliche Geschlossenheit erzielt. Die Bühne wird in ihrer ganzen Höhe und Tiefe sichtbar gemacht, Beleuchtungstürme stehen gespenstisch an den Rändern des Spielfeldes, das die Heide als ein Symbol versteinerter Natur darstellt, im Sturm hydraulisch bewegt und aufgebrochen. Bei Ponnelle hat auch die perfektionierteste Technik noch Poesie, er schafft Büder von visionärer Intensität und theatralischer Sinnlichkeit Für das gesamte Ensemble soll Dietrich Fischer-Dieskau in der Verkörperung der Titelpartie genannt sein, sein psalmodierendes Beweinen von Cordelias Tod wird zum erschütternden Höhepunkt. Den monströsen Klangapparat - von dem glänzend disponierten Bayerischen Staatsorchester gestellt - steuerte Gerd Albrecht, ein Dirigent, dem die graphischen Büder moderner Partituren vertraut sind, der präzise Einsätze im Labyrinth der rhythmischen Verschiebungen zu geben in der Lage ist und nicht einen Augenblick die Übersicht verliert. Ungetrübter, nicht enden wollender Jubel für den anwesenden Komponisten und alle Mitwirkenden beschloß diese denkwürdige Premiere.

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