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Arme gibt es auch bei uns
Kritik hat die Stellungnahme von P. Wolfgang Ok- kenfels OP zum Entwurf des Sozialhirtenbriefs (FURCHE 9/1989) ausgelöst. Im folgenden zwei Wortmeldungen.
Kritik hat die Stellungnahme von P. Wolfgang Ok- kenfels OP zum Entwurf des Sozialhirtenbriefs (FURCHE 9/1989) ausgelöst. Im folgenden zwei Wortmeldungen.
Als Arbeitsrechtler und früherer Sozialpolitiker bin und war ich regelmäßig mit den Alltagsproblemen der arbeitenden Bevölkerung befaßt und habe hautnah die schleichende - von der Gesellschaft weitgehend akzeptierte — Armut im Gespräch mit vielen Mitmenschen erlebt. Es ist ein unbestreitbares Faktum, daß 50 Prozent aller weiblichen Arbeiter im Jahr 1987 weniger als 7.280 Schilling verdient haben. Es ist Tatsache, daß zwei Drittel der weiblichen Pensionisten weniger als netto 6.000 Schilling Pension erhalten und daß Frauen auch bei gleichwertiger Beschäftigung (ja oft sogar engagierterer) bis zu 40 Prozent weniger verdienen als die Männer und wesentlich geringere Aufstiegschancen haben.
Selbstverständlich geht es auch um eine Aufwertung der Familien- und Haushaltsarbeit, aber von einem freundlichen Dankeschön hat eine Familie mit Kindern, die an der Armutsgrenze lebt, nichts. Aufwertung dieser Arbeit kann nicht nur durch Worte erfolgen, sondern muß der Gesellschaft auch materielle Opfer wert sein.
Auch geht es den Verfassern des Grundtextes (ich gehöre nicht zu ihnen) gar nicht darum, eine umfassende christliche Sozialethik darzustellen, sondern um das Aufmerksammachen auf die immer größer werdende materielle Armut in unserer Gesellschaft und um ein Wachrütteln der Christen.
Besonderen Widerspruch fordern die Aussagen von Ockenfels zum Kapitel „Frau“ heraus, weil šie offensichtlich noch ganz im vorherrschenden patriarchalischen System wurzeln. Dieses wird aber mit Sicherheit durch das Partnerschaftsprinzip abgelöst werden, das in allen Bereichen der Gesellschaft große Veränderungen mit sich bringen wird. Die Gesellschaft, aber auch die Kirche, wird zur Kenntnis nehmen müssen, daß Frauen sich nicht mehr von reinen Männergremien bestimmen lassen. Ganz besonders gilt dies in der Arbeitswelt: Familien- und Haushaltspflichten werden Männern und Frauen in gleicher Weise obliegen. Frauen haben ein Recht, sich auch im Berufsleben zu verwirklichen.
Eine Gesellschaft, die positiv zur Familie steht, wird zusätzliche Belastungen auf sich nehmen müssen: Ich denke an den dreijährigen Karenzurlaub mit Arbeitsplatzgarantie, an verbesserte Familienbeihilfen oder höhere Steu- erabsetzbeträge, an die gesellschaftliche, auch materielle Anerkennung der Hausarbeit, an eine angemessene Entlohnung der sozialen Dienste, an den Ausbau rechtlich abgesicherter Teilzeitbeschäftigung oder an ein angemessenes gesetzliches Mindesteinkommen.
Ockenfels kritisiert weiters, daß die Grundtextverfasser im Kapitel „Sozialstaat“ mit ihrer Forderung so weit gehen, daß sie ein „Wachsen“ der Solidarität und ein „Weiterentwickeln des Sozialstaates“ verlangen. Auch hierin fehlt ganz offensichtlich der Realitätsbezug:
Sind Pater Ockenfels die Arbeitslosenziffern im EG-Raum, aber auch in Österreich, nicht be kannt? Ist ihm nicht bewußt, daß fast 30 Prozent der österreichischen Arbeitslosen mit einer Unterstützung von weniger als 4.500 Schilling auskommen müssen, daß aber andererseits das oberste Viertel der Einkommenspyramide immer höhere Einkommenszuwächse aufzuweisen hat?
In dieser Situation nach einem Sozialstop zu rufen, identifiziert den Verfasser des Artikels als Vertreter jener vor allem in Wirtschaftskreisen beheimateten Gruppe, die am bestehenden Wirtschaftssystem nichts ändern wollen (auch keine Umverteilung), sondern die mit ihm entstehende Armut als „wirtschaftliche Notwendigkeit“ akzeptieren.
Ich bin glücklich, daß der Entwurf des Sozialhirtenbriefes im Sinne der Enzykliken „Laborem exercens“ und „Sollicitudo rei so- cialis“ einen anderen Weg einschlägt.
Schließlich noch ein Wort zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. Unbestreitbar ist das bestehende Arbeitszeitgesetz zu starr und bedarf einer Korrektur. Doch darf es keinesfalls zu der von den Unternehmern gewünschten vollen
Liberalisierung kommen.
Gerade in den vielen Klein- und Mittelbetrieben ohne gewählte Betriebsräte würden die Arbeitnehmer der Willkür der Dienstgeber ausgeliefert sein. Auch am Ende des 20. Jahrhunderts ist der Arbeitnehmer der Schwächere.
Auch die immer mehr um sich greifende Verletzung der Sonn- und Feiertagsruhe (aus Gründen der besseren Ausnützung des teuren Maschinenparks) ist ein Teil des Flexibilisierungskonzepts der Unternehmer und wird sicher nicht, wie Ockenfels gemeint hat, eine neue „Chance für das Familienleben“ sein.
Flexibilisierung der Arbeit ja, nicht aber auf dem Rücken der Arbeitnehmer und nur unter gleichzeitigem Ausbau der Arbeitnehmermitbestimmung !
Ich kann nur hoffen, daß das mutige Vorhaben der österreichischen Bischöfe, gemeinsam mit der Basis einen Sozialhirtenbrief zu erstellen, fortgeführt wird und sich möglichst viele Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche — auch kontroversiell — an dieser Diskussion beteiligen.
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