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Arme, nicht Bettelbrüder

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Die Armen in den Entwicklungsländern wollen ihr Schicksal gar nicht selbst in die Hand nehmen, sagen Satte in den Industrieländern. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus.

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Die Armen in den Entwicklungsländern wollen ihr Schicksal gar nicht selbst in die Hand nehmen, sagen Satte in den Industrieländern. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus.

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Vor einigen Wochen wurde die Versammlung der Weltbank in Seoul (Korea) abgehalten. Bei der Vorbereitung dieser Versammlung wurden alte Viertel in der Nähe des Tagungsortes eingeebnet. Ein Gewirr von kleinen Läden und Häusern von Menschen, die sich seit Jahren hier angesiedelt hatten, verschwand über Nacht, um Parkraum für eine Versammlung von zehn Tagen Dauer zu schaffen. Als ich von diesem Ereignis erfuhr, erinnerte ich mich anderer Beispiele, wo die Durchführung technokratischer Lösungen über Nacht zu unbeschreiblichem menschlichen Leid, insbesondere der Armen, geführt hatte. Man erinnert sich auch dieser riesigen Staudammprojekte, die den alten Lebensraum und die Nahrungsquellen von Stammesgemeinschaften zerstörten.

Trotz dieser arroganten Unmenschlichkeit und Armut fehlt den Armen keineswegs die menschliche Dynamik in der Kreativität und Motivation, ein würdiges und selbstbewußtes Leben zu führen. In vielen der ärmsten Dörfer findet man Kleinbetriebe, selbst angefertigte Werkzeuge und kulturelle Traditionen, mit denen Fertigkeiten und Wissen der nächsten Generation vermittelt werden — eigeninitiative Aktivitäten, die es den Armen über Jahrhunderte hinweg ermöglicht haben, mit ihren harten Lebensbedingungen fertig zu werden.

Die Existenz dieser Aktivitäten wird beispielsweise in einem Sonderblatt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland dokumentiert. Und zwar in der Studie des Ministeriums über „Versuche, Armut durch Selbsthilfe und zielgruppen-orientierte finanzielle Instrumente zu beseitigen“. Unter den Fallstudien befinden sich Beispiele für Selbsthilfe-Sparpläne, gemeinschaftliche Unterstützung von Gesundheitsprojekten, Instandhaltung von Bewässerungssystemen und dezentrale Entscheidungsfindung in Dörfern (siehe Seiten 8 und 9).

Da es diese weitreichenden Anstrengungen zur Eigeninitiative in den Gemeinwesen der Armen gibt, müssen diejenigen, die mittels Wohltätigkeit eingreifen, darauf achten, daß ihre Aktionen weder die Motivation der Armen verringern noch an den vor Ort ablaufenden Prozessen vorbeigehen, die eng mit der traditionellen Orientierung der Armen auf ein selbstbewußtes Leben hin verbunden sind. Wohltätigkeit muß als eine bei Katastrophen angemessene kurzfristige Aktion angesehen werden.

Im Zuge meiner Bemühungen um Spenden für die Missionen bemerkte ich kürzlich, daß einige Medien begannen, ein entmenschlichtes Bild der Armen zu verbreiten. Ihre Kinder wurden als verzweifelte Bettler dargestellt; ihre Töchter als abgebrühte Prostituierte; ihre Männer als arbeitsscheue Tagelöhner. Der angestrebte Effekt war der, die Armen auf untermenschliches Niveau herabzudrücken und das Mitleid der Reichen zu erregen, weil die Armen nicht imstande seien, menschliche Verhaltensweisen zu zeigen.

Das wahre Gesicht der Armut sieht jedoch völlig anders aus als diese Karikatur. Die Armen praktizieren Gastfreundschaft mit einer solchen Würde und Großzügigkeit, wie dies nur bei wenigen Reichen der Fall ist; denn die Armen geben, was sie selbst eigentlich zum Leben brauchen und nicht nur Dinge, die ohnehin in Hülle und Fülle vorhanden sind. Die Armen haben sich die verlorengegangene Kunst des Respekts dem Alter gegenüber erhalten, und sie brauchen keine Altersheime.

Für andere Opfer zu bringen, ist Teü ihres Erbes. Wissen Sie zum Beispiel, daß die Mehrzahl der philippinischen Krankenschwestern und Lehrer, die im Ausland arbeiten, fast 75 Prozent ihres Einkommens nach Hause überweisen, um ihren jüngeren Brüdern und Schwestern zu helfen, ihre Schulausbildung fortzusetzen oder Krankenhauskosten ihrer Eltern zu bezahlen?

Nicht nur, weil die Armen eine ebenso große Menschlichkeit wie wir, wenn nicht sogar eine größere, besitzen, können wir uns mit ihnen wahrhaft solidarisieren und in Notzeiten unser Mitgefühl für ihre Leiden zeigen.

Ist dies ein zu romantisches Bild der Armen? Gibt es diese Qualitäten wirklich bei ihnen und geben sie ihrem Leben Kraft?

Der einzige Weg, dies herauszufinden, ist unser Mitgefühl, und das heißt letztendlich, daß man sich in das Leben der Armen hineinversetzen und selbst der Realität ihrer Armut gegenüberstehen muß.

Der Autor ist Erzbischof von Manila/Philippinen. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Referat anläßlich des Symposions „Kir-che und Wirtschaft“ im Vatikan (Vgl. FURCHE 49/1985).

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