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Armenien - Land der Barone

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Armenien war einst ein mächtiges Reich, das weite Teile Kleinasiens beherrschte, zugleich aber auch als wichtiges Kulturzentrum galt, dessen Einfluß sich nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch in Europa geltend machte. Heute existiert es als Staat nur noch in seinem kleinen, östlichen Randteil: 1920 wurde es Sowjetrepublik. Armenien, das seit seinem Bestehen um die Freiheit kämpfen mußte und 600 Jahre lang die Herrschaft der Osmanen ertrug, ist dadurch vielleicht vor dem totalen Zusammenbruch, seine Bevölkerung vor der physischen und psychischen Vernichtung bewahrt worden. Interessant aber ist die Tatsache, daß es seine alte Kultur, seine eigene Sprache, Schrift, Religion bis zum heutigen Tag erhalten hat und seit Stalins Tod eine sichtbare Aufwärtsentwicklung zeigt, eine Auferstehung erlebt. — Obwohl die Zeiten der Adelsherrschaft in Armenien schon längst der Vergangenheit angehören, hört man unzählige Male den Titel „Baron“. Kein Wunder, das Wort bedeutet in Armenien schlicht und einfach „Herr“. Es wurde im Mittelalter von europäischen Adeligen übernommen: Armenien gewährte ihnen damals bei den Kreuzzügen bedeutende Unterstützung.

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Armenien war einst ein mächtiges Reich, das weite Teile Kleinasiens beherrschte, zugleich aber auch als wichtiges Kulturzentrum galt, dessen Einfluß sich nicht nur in den Nachbarländern, sondern auch in Europa geltend machte. Heute existiert es als Staat nur noch in seinem kleinen, östlichen Randteil: 1920 wurde es Sowjetrepublik. Armenien, das seit seinem Bestehen um die Freiheit kämpfen mußte und 600 Jahre lang die Herrschaft der Osmanen ertrug, ist dadurch vielleicht vor dem totalen Zusammenbruch, seine Bevölkerung vor der physischen und psychischen Vernichtung bewahrt worden. Interessant aber ist die Tatsache, daß es seine alte Kultur, seine eigene Sprache, Schrift, Religion bis zum heutigen Tag erhalten hat und seit Stalins Tod eine sichtbare Aufwärtsentwicklung zeigt, eine Auferstehung erlebt. — Obwohl die Zeiten der Adelsherrschaft in Armenien schon längst der Vergangenheit angehören, hört man unzählige Male den Titel „Baron“. Kein Wunder, das Wort bedeutet in Armenien schlicht und einfach „Herr“. Es wurde im Mittelalter von europäischen Adeligen übernommen: Armenien gewährte ihnen damals bei den Kreuzzügen bedeutende Unterstützung.

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Sowjetarmenien, das 2,8 Millionen Einwohner zählt, liegt im Länderdreieck des südlichen Transkaukasus, grenzt an den Iran und an die Türkei.

Jerewan (800.000 Einwohner), mit einer 2750jährigen Vergangenheit, ist heute eine der modernsten und schönsten Städte der UdSSR. Breite Boulevards, großzügig angelegte Plätze, Grünanlagen, Parks, Denkmäler, Beleuchtung nach dem neuesten Stand der Technik, imponierende Bauten und Häuserfronten aus rosafarbenem Tuffstein im typisch armenischen Baustil beherrschen und charakterisieren das Stadtbild.

Neue, im Hilton-Stil erbaute, viel-stöckige Hotels, moderne Restaurants und Kaffeehäuser, Schulen, Gymnasien, die Universität und zahlreiche wissenschaftliche Institute, Museen, Bildergalerien, Kinos schössen buchstäblich aus dem Boden: Noch vor 50 Jahren war Jerewan auf Grund politischer Umstände lediglich eine Lehmhütten-Siedlung mit 30.000 Einwohnern, hauptsächlich Flüchtlingen aus Westarmenien, die nur das besaßen, was sie auf dem Leibe trugen. Durch Ehrgeiz, Fleiß und unbezähmbaren Schaffensdrang gelang es diesem Volk, nicht nur die Stadt Jerewan, sondern die ganze Republik so aufzubauen, daß man Armenien heute zu den kultivierteren Ländern zählen kann.

Die Armenier, die Schlimmeres als den Kommunismus erlebt haben, profitieren von diesem Staatssystem: das Land konnte industrialisiert werden, verschiedene Bildungsmöglichkeiten sind gegeben, das Volk hat Frieden, zugleich aber auch die Aufsicht seines großen Schirmherrn.

Unmittelbar nach der Revolution verfolgten die Armenier separatistische Ziele, ihr Aufstand wurde niedergeworfen. Sie haben, wieder einmal, gelernt, sich mit der Realität zu arrangieren und unter allen sowjetischen Intellektuellen sind heute die armenischen am findigsten beim Aufspüren von Möglichkeiten, sich im Schatten der allgegenwärtigen Zensur einen Rest von Unabhängigkeit zu bewahren. Die Jerewan-

Witze sind keine Erfindung des Westens: Als vor Jahren ein Funktionär von Radio Jerewan in einem Hörsaal der Moskauer Universität den Hörern vorgestellt wurde, gab es einen Eklat in Form eines Lachsturms.

Heute werden in Armenien Computer, Werkzeugmaschinen, Autos, Elektrodynamos erzeugt, es ist bedeutend in der Feinmechanik, Kautschuk- und Leichtindustrie, Chemie, Metallurgie, Textil- und Nahrungsmittelindustrie, auch auf vielen anderen Gebieten. Die ohnehin schon große elektrische Kapazität soll in den nächsten fünf Jahren durch Atomenergie verdreifacht werden, auch ist das höchste Zuwachstempo der ganzen Sowjetunion vorgesehen, was industrielle Produktion betrifft.

Bei1 der 50-Jahr-Feier anläßlich der Zugehörigkeit Armeniens zur Sowjetunion erklärte Breschnjew: „Bei euch, Genossen, ist es wirklich nicht zum schlechtesten bestellt.“ Und damit hatte er in gewissem Sinne recht: Die Wohnungen sind relativ billig, die sozialen Einrichtungen sichern die Alters- und Krankenfürsörge, leistungsfähige moderne Schulen und Universitäten heben das Bildungsniveau, es gibt Kindergärten, Ferienheime, große Spitäler, eine modernst ausgerüstete Herzstation, Sanatorien, Erholungsstätten, Altersheime.

Aber noch ist das Wohnungsproblem nicht gelöst: Die hohen Geburtenziffern und die Einwanderungen aus dem Libanon, Iran und der Türkei (allein 1970 beschlossen nahezu 4000 Menschen freiwillig, in Armenien zu leben) konkurrieren mit der Bautätigkeit. Auf diesem Sektor wird jedoch fieberhaft gearbeitet.

Viele technische Einrichtungen sind längst kein Luxus mehr: Eiskasten, Fernsehapparat, Radio, Plattenspieler, Staubsauger, Dusche oder Bad sind Selbstverständlichkeiten geworden. Darüber hinaus besitzt fast jede Familie irgendeines oder mehrere Musikinstrumente; in sehr vielen Wohnungen steht ein Klavier.

In der Bekleidungsbranche wird viel getan. Das Textilzentrum ist Leninagan, die zweitgrößte Stadt Armeniens. Hier werden Anzugsund Kleiderstoffe erzeugt, zu guter Konfektionsware verarbeitet, der Inlandsbedarf gedeckt und auch an die übrigen Republiken exportiert. Auf dem Schuhsektor herrscht bereits Sättigung, gibt es einen Produktionsüberschuß. Armenische Einwanderer aus Beirut haben vorhandene Fabriken vergrößert, modernisiert und die Produktion geschmacklich und qualitativ an den Westen angeglichen.

Hauptnahrungsmittel sind in Armenien genügend vorhanden. Obwohl der größte Teil des Landes aus unfruchtbarem Boden besteht, hat man es hier verstanden, die Landwirtschaft erfolgreich aufzubauen. Gemüse (Auberginen, Tomaten, Zucchini, Kürbisse, Gurken, Paprika, Salate) sind in großer Menge vorhanden und werden im Winter in großangelegten Glashäusern gezogen. So hat sich auch die Konservenindustrie gut entwickeln können. Ausgedehnte Obstkulturen entstanden (auf diesem Gebiet sind die Armenier schon seit alters her bekannt), und der Weinbau nimmt einen besonderen Platz ein: 10 Prozent der Dessertweine und 14 Prozent des Weinbrandes der gesamten Unionsproduktion werden von Armenien geliefert.

Im Verhältnis zum Lebensstandard und dem Warenangebot ist das Einkommen der Bevölkerung knapp. Da jedoch in jeder Familie mehrere Mitglieder arbeiten, ist es durch Wirtschaftlichkeit möglich, ein besseres Leben zu führen.

An den armenischen Universitäten studieren auch viele ausländische Studenten. Besonders stark sind Mathematik, Physik, Chemie, Atomphysik (die Professoren Brüder Alichanian) und Astrophysik vertreten. Der Astrophysiker Professor Dr. Hambartsumian ist Präsident der Akademie der Wissenschaften in Armenien, sowie Ehrenmitglied zahlreicher ausländischer Universitäten, unter anderen der Wiener Alma mater. Wissen und Bildung sind das Hauptziel der Armenier: Auf 10.000 Einwohner entfallen 214 Studenten. Auch auf sportlicher Ebene tritt Armenien immer mehr in den Vordergrund. In den Trainingslagern von Zachkadzor (in 2000 Meter Höhe) werden die Spitzensportler der Sowjetunion auf die Olympischen Spiele vorbereitet.

Daneben gilt Armenien als eines der beliebtesten Fremdenverkehrszentren der Sowjetunion. Das offene, freundliche Benehmen der Armenier, ihre Gastfreundschaft, ihre Herzlichkeit, aber auch das kulturelle Erlebnis bei der Besichtigung ihrer Kulturschätze und der Überreste unzähliger alter, geschichtlicher Bauten, wie auch die unberührte Schönheit der herrlichen Gebirgslandschaft haben großen Anteil daran.

Einer der größten Touristenanziehungspunkte ist Etschmiadzin, etwa 25 Kilometer westlich der Hauptstadt, Sitz des Katholikös aller Armenier, Vascen I. Die armenische apostolische Nationalkirche wurde 301 zur Staatsreligion erhoben — somit war Armenien das erste christliche Land der Weltgeschichte.

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