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Armer Führer …!

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Lieber Vater, es tut mir leid, aber jetzt weiß ich es endlich: Du bist ein armer Narr. Ich war nämlich gestern im Kino und habe mir „Hitler, eine Karriere“ angeschaut. Jetzt weiß ich, wie der Hitler wirklich war. Du hast mir über ihn jahrelang immer nur Sachen erzählt, die überhaupt nicht wahr sind.

Zum Beispiel die Behauptung, daß der Hitler ein Verbrecher war. Davon ist in diesem seriösen Dokumentarfilm nicht ein einziges Mal die Rede, mit keinem Wort! Also, was soll ich jetzt von Dir halten? Hitler war kein Verbrecher, sondern er ist auch auf dem Höhepunkt der Macht „immer der arme Teufel aus Österreich geblieben“, ich habe genau aufgepaßt und mir alles gut gemerkt.

Daß er eine Karriere machen wollte, ist doch nur natürlich. Auch heute will doch jeder nichts anderes. Natürlich hat auch er mit allen Mitteln gearbeitet, um hinaufzukommen. Aber das muß man doch auch heute.

Demokrat war er keiner, das habe ich dem Film deutlich entnommen. Aber ich weiß nicht recht, ob das wirklich etwas Böses bedeutet. Damals, wie sich der Hitler so hart hat hinaufkämpfen müssen, war die Demokratie doch noch schlechter als heute! Ich glaube, Du solltest Dir „Hitler, eine Karriere“ auch anschauen. Die Dokumentaraufnahmen, in denen die Zustände gezeigt werden, die in Deutschland geherrscht haben, bevor dęr Hitler an die Macht kam, würden auch Dich davon überzeugen, daß er kommen mußte.

Und dann die Sache mit den Juden. Also, die jüdischen Gesichter, die der Hitler als junger Mann damals in Wien gesehen hat, ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich kann ganz gut verstehen, daß er vor diesen Gesichtern Angst bekommen hat. Außerdem hat der Sprecher zu diesen Bildern irgend etwas gesagt, was ich mir nicht genau gemerkt habe, was mich aber sehr beeindruckt hat und mir den Hitler nahegebracht hat, irgendwas mit „blutschänderischen Ängsten“.

Ehrlich, ich verstehe nicht, warum unsere Familie so stur gegen den Hitler war. Wo er doch „moderner, einfallsreicher als alle anderen“ war. Wo der Film doch zugeben muß, was nach Hitlers Machtergreifung geschah: „Zweifel schlugen um in Respekt.“ Das bißchen Stacheldraht, die Wachen davor: Die von den Wachmannschaften in Schach gehaltenen Männer werden schon etwas auf dem Kerbholz gehabt haben.

Natürlich war es ein Schönheitsfehler, daß unter Hitler die Juden umgebracht worden sind. Noch dazu so bru tal, obwohl ich finde, daß man da ein paar Bilder aus dem Film hätte herausschneiden sollen, denn wie kommt man denn dazu, außerdem stehen sie mit dem eigentlichen Inhalt dieser wertvollen Dokumentation doch in keinem Zusammenhang, sie wirken aufgesetzt, unorganisch eingefügt. Ich glaube auch nicht, daß Hitler irgendwelche Ausschreitungen gewollt oder daß er sie auch nur geduldet hätte.

Wo doch etwas früher, kurz nach Hitlers Machtergreifung, im Film zu den antisemitischen Vorfällen der Sprecher ausdrücklich sagt, daß sich der Hitler „noch nicht stark genug“ fühlte, „dem Judenhaß offen nachzugeben“. Daraus geht doch hervor, daß der Judenhaß gar nicht vom Hitler gekommen ist, sondern daß er ihm nur nachgegeben hat. Ich glaube, er selber hat eigentlich gar nichts gegen die Juden gehabt. Er hat nur den Menschen nach dem Mund geredet, er war halt manchmal auch ein Opportunist. Die Menschen werden schon gewußt haben, warum sie gegen die Juden waren.

Ich glaube, Hitlers größter Fehler war, daß er Rußland angegriffen hat, statt England vorher fertigzumachen. Denn für den Krieg gegen die Sowjets war er nicht brutal genug. Bedenke: Nur 5000 von den 91.000 Deutschen, die den Sowjets in Stalingrad in die Hände fielen, kehrten aus der Gefangenschaft zurück! Das sind Zahlen! Das war ein Massenmord!

Lieber Vater, bitte erzähle mir, wer eigentlich der Rathenau war. Man hört nur, daß er gestorben ist, aber nicht, woran. War er schon so alt? Und, lieber Vater, geh in „Hitler, eine Karriere“! Vielleicht bringt dieser Film auch Dich noch zu einem objektiven Urteil über den armen Hitler! Dein Sohn.

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